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Die Herren des Nordens

Titel: Die Herren des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Cornwell
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meine Heimat. Nicht Wessex mit seinen satteren Feldern und sanfteren Hügeln. Wessex war gezähmt worden, der König
     und die Kirche hatten es sich untertan gemacht, doch hier oben zogen wildere Vogelschwärme durch die kälteren Lüfte.
    «Von hier kommst du also?», fragte Hild, als sich die Ufer des Flusses einander annäherten.
    «Mein Land liegt ganz oben im Norden», erklärte ich ihr. «Hier ist Mercien.» Ich deutete auf das südliche Flussufer. «Und
     dort ist Northumbrien.» Ich zeigte ans andere Ufer. «Northumbrien erstreckt sich bis ins Land der Barbaren.»
    «Barbaren?»
    «Schotten», sagte ich und spuckte über die Reling. Vor den Dänen waren die Schotten unsere ärgsten Feinde |24| gewesen. Immerzu waren sie südwärts in unser Land vorgestoßen, aber dann waren sie, wie wir auch, von den Nordmännern überfallen
     worden, und dadurch war die Bedrohung durch sie schwächer geworden, wenn sie auch nicht ganz erloschen war.
    Wir ruderten die Ouse hinauf, und unsere Gesänge begleiteten die Ruderschläge, während wir zwischen Weiden und Erlen dahinglitten,
     vorbei an Wiesen und Wäldern, und Thorkild nahm, jetzt, wo wir nach Northumbrien einfuhren, den geschnitzten Hundekopf vom
     Steven, damit das zähnefletschende Untier die Geister des Landes nicht erschreckte. An diesem Abend kamen wir unter einem
     blassen Himmel nach Eoferwic, der Hauptstadt von Northumbrien, den Ort, an dem mein Vater hingemetzelt worden war, an dem
     ich zum Waisen geworden und Ragnar dem Älteren begegnet war, der mich großgezogen und mich die Liebe zu den Dänen gelehrt
     hatte.
    Ich ruderte nicht, als wir uns der Stadt näherten, denn ich hatte mich schon den ganzen Tag am Ruder geplagt, und Thorkild
     setzte einen anderen an meine Stelle. Ich stand im Bug und betrachtete den Rauch, der über den Dächern aufstieg, und dann
     wanderte mein Blick nach unten auf das Wasser, und ich sah die erste Leiche. Es war ein Junge, vielleicht zehn oder elf Jahre
     alt, und er war mit Ausnahme eines Tuchs um die Hüften nackt. Ihm war die Kehle durchgeschnitten worden, doch die klaffende
     Wunde blutete nicht mehr, denn sie war schon ganz von der Ouse ausgewaschen worden. Sein langes Haar driftete wie Seegras
     unter dem Wasser.
    Wir sahen noch mehr Leichen vorbeitreiben, bis wir nahe genug an der Stadt waren, um Männer auf dem Festungswall zu erkennen.
     Es waren zu viele Männer, Männer mit Speeren und Schilden, und an der Landestelle waren |25| noch mehr Männer, Männer in Kettenhemden, Männer, die uns aufmerksam beobachteten, Männer mit gezogenen Schwertern. Also rief
     Thorkild einen Befehl, und unsere Ruder blieben gehoben, und Wasser tropfte von den bewegungslosen Ruderblättern. Das Schiff
     drehte sich in die Strömung, und ich hörte die Schreie aus der Stadt.
    Ich war wieder zu Hause.

|27| EINS
    Thorkild ließ das Schiff hundert Schritt stromabwärts treiben und dann in der Nähe einer Weide mit dem Bug aufs Ufer laufen.
     Er sprang hinunter, schlang zur Sicherung des Schiffes ein Tau aus gedrehtem Robbenfell um den Stamm der Weide und kletterte
     nach einem angstvollen Blick auf die bewaffneten Männer, die uns aus der Entfernung beobachteten, eilig wieder an Bord. «Du»,
     er deutete auf mich, «finde raus, was dort los ist.»
    «Dort gibt’s Ärger», sagte ich. «Musst du noch mehr wissen?»
    «Ich muss wissen, was mit meinem Lagerhaus ist», sagte er und nickte in Richtung der Bewaffneten, «und ich habe keine Lust,
     sie zu fragen. Also machst du es.»
    Er hatte mich dazu bestimmt, weil ich ein Krieger war und weil es ihn nicht bekümmern würde, wenn ich umkäme. Die meisten
     seiner Ruderleute konnten kämpfen, aber er vermied möglichst jede Auseinandersetzung, denn das Blutvergießen und der Warenhandel
     vertragen sich nicht gut. Die bewaffneten Männer kamen nun am Ufer entlang auf uns zu. Es waren sechs, doch sie näherten sich
     zögerlich, denn Thorkild hatte zweimal so viele Leute auf dem Schiff, und alle trugen Äxte und Speere.
    Ich zog mir das Kettenhemd über, wickelte den prächtigen Helm mit dem Wolfskopf aus, den ich von einem dänischen Schiff vor
     der walisischen Küste erbeutet hatte, gürtete mich mit Schlangenhauch und Wespenstachel und sprang in dieser schweren Kriegsrüstung
     unbeholfen ans Ufer. Ich rutschte auf dem abschüssigen Hang aus, |28| klammerte mich an ein paar Nesseln fest, fluchte über das Brennen und stieg bis zum Uferpfad hinauf. Ich war schon früher
     hier gewesen.

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