Die Herren von Everon
Mikeys gegenwärtigem Appetit, dachte Jef, würden alle Rationen im Rucksack für ihn ohnehin kaum mehr als einen kleinen Imbiß bedeuten.
Vom dritten Tag an riß sich Mikey Fleischstücke von jeder toten, noch in eßbarem Zustand befindlichen Antilope, an der sie vorbeikamen. Zum ersten Mal erlebte Jef es, daß der Maolot sich weigerte, zu ihm zu kommen, wenn er es ihm befahl. Er kam erst, wenn er soviel gefuttert hatte, wie in ihn hineinging. Er duckte sich zu Boden, wenn Jef zornig nach ihm rief; er gab entschuldigende Laute von sich. Aber er ließ nicht von seiner Beute ab, bis seine Flanken sich vor Fleisch trommelfest spannten.
Jef war ehrlich verblüfft. Mikey war immer ein starker Esser gewesen, aber das hier war nicht mehr zu verstehen, ja, es war unnatürlich. Ebenso erstaunlich war, daß Mikey mit solcher Schnelligkeit wuchs. Er hatte jetzt gut anderthalb Meter Schulterhöhe.
Irgendwann am Nachmittag des vierten Tages brachte Jarji das Thema offen zur Sprache.
„So, wie dein Tier wächst“, bemerkte sie, „wird er in vierzehn Tagen die Größe eines Erwachsenen erreicht haben.“
Jef grunzte. Er konnte es nicht abstreiten. Mikey hatte ihm sonst immer mit dem Kopf in die unteren Rippen geboxt. Jetzt befand sich sein Kopf beinahe auf gleicher Höhe mit Jefs eigenem. Ging es noch zwei Wochen so weiter, würde Mikey auf ihn herabsehen.
„In einigen wenigen Tagen?“ protestierte Jef trotzdem. „Das ist nicht möglich!“
Da es nicht nur möglich, sondern eine offenkundige Tatsache war, würdigte Jarji diese Bemerkung keiner Antwort. Sie schritt weiter, während Jef erst stehenbleiben und Mikey abwehren mußte. Der Maolot, der sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit fühlte, hatte sich nämlich Jef in den Weg gestellt und versuchte, Jefs Gesicht abzulecken. Es kostete Jef einige Mühe, ihn davon abzubringen.
„Jedenfalls“, sagte Jef, als es ihm gelungen war, den ganzen Trupp wieder in Marsch zu setzen, „bin ich froh, daß er mit dem Futter, das er verschlingt, etwas anzufangen weiß. Ich hatte schon befürchtet, er werde eines Tages vor unseren Augen explodieren.“
Gleich darauf wurde er wieder ernst.
„Andererseits hoffe ich, daß er nicht zu schnell wächst.“
„Wie kann er denn zu schnell wachsen?“ gab Jarji zurück.
„Ich dachte – für den Fall, daß wir einem erwachsenen Maolot-Mann begegnen.“ Jef erzählte ihr, wie er und Mikey auf ihrem Weg zum Posten Fünfzig, nachdem Jarji sie verlassen hatte, mit dem großen Maolot zusammengetroffen waren.
„Und du glaubst, der Große hat euch gehenlassen, als er sah, daß Mikey noch nicht ganz ausgewachsen war?“ fragte Jarji, als Jef zu Ende war.
„Das hast du mir selbst erzählt – daß die erwachsenen Maolot-Männer Junge in Ruhe lassen, weißt du nicht mehr?“ erwiderte Jef. „Übrigens war das etwas, das ich bereits wußte: Maolot-Männer greifen nur andere Maolot-Männer an. Wenn der, dem wir über den Weg liefen, die Absicht hatte, uns anzugreifen, dann hat er seine Meinung geändert, als er Mikey erblickte. Er ließ Mikey gehen und mich mit ihm.“
„Man kann nie vorhersagen, was ein Maolot tun wird,“ meinte Jarji. Der Klang ihrer Stimme veranlaßte Jef, zu ihr hinzusehen. Sie schritt mit einem so geistesabwesenden Ausdruck voran, wie er ihn bei ihr noch nie gesehen hatte.
Sie setzten ihren Marsch fort, ohne sich weiter zu unterhalten. Jefs Gedanken wanderten zu den Fragen zurück, die die Person Beau leCourboisiers in ihm hervorriefen. Armage hatte ihn den schlimmsten Gesetzlosen im Oberland genannt. Aber Jarji hatte erzählt, Beaus Antilopen seien fortgetrieben und vergiftet worden, damit irgendein Wisent-Rancher ein Recht darauf bekam, diesen Teil des Waldes zu roden und Weide daraus zu machen. Wenn das stimmte, mußte es zwischen den beiden Gruppen schon vor einiger Zeit zu offener Gewalttätigkeit gekommen sein. Und jeder, der in diesen Krieg hineingezogen wurde …
Andererseits war es schwer zu glauben, daß solche Dinge auf Everon passieren konnten. Diese Welt war erst vor so kurzer Zeit besiedelt worden, daß sie immer noch der Überwachung durch das Ökologische Korps unterstand. Eine oder zwei Personen mochten sich dazu haben hinreißen lassen, die Tiere eines anderen fortzutreiben, aber sie vergiften …? Es war ein richtiger Schock für Jef, als ihm einfiel, daß er selbst schon Antilopen gesehen hatte, die vermutlich vergiftet worden waren – Mikey hatte von ihnen gefressen. Aber woher sollten die
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