Die Herrin der Kelten
Ratsälteste - war es schon seit Mitte des Winters gewesen, als Talla gestorben war -, und das hatte das Verhältnis zwischen ihm und Breaca verändert. Sein Blick bohrte Mulden in ihren Schädel und ließ Licht in ihre Seele strömen. Ruhig, als ob es Teil einer unterbrochenen Unterhaltung wäre, sagte er: »Breaca, die Möwen sind noch nicht gekommen.«
Das konnte sie jetzt auch sehen. Die Erschöpfung zehrte an ihren Kräften. Sie nickte stumm, nicht gewillt zu sprechen.
Caradoc war näher, als sie geglaubt hatte. Der Sommer hatte ihn milder gemacht, hatte sein Haar noch heller gebleicht als das Stroh und seine Haut in weiches Leder verwandelt. Er blickte sie aus kühlen grauen Augen an, musterte sie mit dem Urteilsvermögen eines Kriegers. Sie erwartete auch nichts anderes. In den vier Jahren, die vergangen waren, seit sie mit der grauen Stute auf einer Hügelkuppe gestanden und ihren Zorn und ihren Schmerz angesichts einer sehr viel größeren Bedrohung verdrängt hatte, hatte sie ein pragmatisches Übereinkommen mit Caradoc erzielt, eine Art gütlicher Einigung, die es beiden ermöglichte, sich voll und ganz ihrem gemeinsamen Dienst an dem Land und seinen Menschen zu widmen. Caradoc behandelte sie wie eine ihm nicht sonderlich nahe stehende Halbschwester, mit der er einen familiären Zwist gehabt hatte, der zwar noch nicht beigelegt war, über den sie aber nicht mehr sprachen. Sie wiederum behandelte ihn so, wie sie vielleicht Amminios behandelt hätte, wenn er - nachdem er bei dem Kriegertanz gegen Bán verloren hatte - gemeinsam mit seinen Brüdern den Kampf gegen Rom aufgenommen und sich als kompetenter und verantwortungsbewusster Anführer erwiesen hätte: mit Respekt und der nötigen Distanz. Jetzt ging Caradoc vor ihr in die Hocke, die Hände auf den Knien, und sie fühlte den Druck seines forschenden Blicks.
Auf ihrer Linken stellte Maroc die einzig notwendige Frage: »Wann werden die weißen Segelschiffe Land sichten?«
Breaca starrte zu ihm hoch, wusste keine Antwort. Airmid kam, um sich neben sie zu knien. Sie hatte in der Nacht von Reihern geträumt, die zu Tausenden herbeigeflogen waren und sämtliche Frösche getötet hatten, und sie hatte all ihren Mut zusammennehmen müssen, um davon zu berichten. Die Möwen waren noch schlimmer, aber nicht für sie. »Sieh die Sonne an«, sagte sie. »Sie wird es dir sagen.«
Breaca schloss die Augen, um nachzudenken. Der Tag, den sie in ihrer Vision gesehen hatte, war zu strahlend gewesen, die See zu glatt, geradezu göttlich glatt, nicht so wie in Wirklichkeit. Die Sonne hatte sie nicht gesehen. Sie schüttelte den Kopf.
»Dann die Schatten.«
Sie blickte hinunter. Die Antwort lag zu ihren Füßen in den schräg fallenden Schatten. »Am Nachmittag, irgendwann zwischen Mittag und Einbruch der Abenddämmerung.«
Es war offensichtlich nicht das, was sie von ihr hören wollten. Maroc saugte an einem Zahn, und Breaca war wieder eine Anfängerin, die gerade erst lernte, die Zeichen zu lesen, und sich ziemlich ungeschickt dabei anstellte. Die Schamesröte kroch von ihrem Hals bis zu ihrem Haaransatz hinauf. Geduldig sagte Airmid: »Nicht das. Betrachte den Winkel, in dem die Sonne steht. Welche Jahreszeit ist das?«
Die Sonne lieferte ihr keine Antworten. Breaca konzentrierte sich erneut auf ihre Vision und betrachtete in Gedanken das Gras und die kleine, verwitterte Birke, die ganz allein auf der Anhöhe hinter der Grasfläche stand. Das Gras war trocken und braun und von Meeressalz überkrustet. Die Birke war fast kahl, ein Gebilde aus von Wind und Wetter gegerbter silbergrauer Rinde und spärlichen, noch sommerlich grünen Blättern.
Sie öffnete die Augen wieder. Das echte Gras war weniger braun, die Birke hatte mehr Blätter, aber ihre Farbe war die gleiche. Ein kräftiger Wind würde genügen, um die restlichen Blätter abzustreifen und die Birke in den Baum ihrer Vision zu verwandeln. »Es dauert nicht mehr lange. In einem Monat. Vielleicht auch schon eher. Nach den ersten Herbststürmen.«
Die Kriegerinnen und Krieger waren verstummt. Diejenigen von den Dobunni, deren Großeltern sich von den Göttern abgewandt hatten, machten das Zeichen, das Unheil abwehren sollte. Andere hoben eine Hand für Briga oder für Nemain. Gunovic beobachtete Breaca so scharf wie ein Hund, der seine Welpen bewacht. Mit sichtlichem Bedauern sagte er: »Breaca bist du dir wirklich sicher, dass es dieses Jahr ist? Könnte es nicht auch erst im nächsten sein?« Er war ein
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