Die Herrlichkeit des Lebens
alles gut im Blick hat. Rund um die gestreiften Strandkörbe sind überall kniehohe Sandburgen gebaut, mindestens jede zweite ist mit einem Davidstern aus Muscheln geschmückt.
Gerti und Felix wollen ins Wasser und freuen sich, dass er mitkommt. Im Uferbereich ist das Wasser badewannenwarm, aber dann schwimmt er mit den beiden hinaus, bis sich auch kältere Strömungen bemerkbar machen. Gerti möchte, dass er ihr zeigt, wie man toter Mann macht, es ist gar nicht schwer, und so treiben sie eine Weile im glitzernden Wasser, bis vom Ufer die Stimme von Elli zu hören ist. Er soll es nicht übertreiben, mahnt sie. Hat er gestern Abend nicht leichtes Fieber gehabt? Ja, gibt derDoktor zu, aber seit heute Morgen ist das Fieber weg. Trotzdem tut es jetzt gut, ruhig im Strandkorb zu sitzen, es muss weit über dreißig Grad haben, in der Sonne ist es kaum auszuhalten. Auch Gerti und Felix sollen es mit der Sonne nicht übertreiben, sie legen gerade mit Kiefernzapfen die Anfangsbuchstaben seines Namens in den Sand. Lange sitzt er einfach da und schaut den Kindern zu, hört ab und zu einen Fetzen Jiddisch, die mahnende Stimme eines der Betreuer, die nicht älter als Mitte zwanzig sind. Gerti hat Kontakt zu einer Gruppe Mädchen, von denen sie auf Nachfrage berichtet, ja, sie kämen aus Berlin, sie machen Ferien wie wir, in einem Heim nicht weit von uns.
Der Doktor könnte stundenlang so sitzen. Elli fragt ihn dauernd, wie er sich fühlt, immer in diesem mütterlich besorgten Ton, den er an ihr schon kennt. Er hat mit Elli nie so reden können, wie er mit Ottla reden kann, dennoch kommt er jetzt auf Hugo und Else Bergmann, die ihn eingeladen haben, mit ihnen nach Palästina zu gehen, nach Tel Aviv, wo es ebenfalls einen Strand gibt und lachende Kinder wie hier. Elli muss nicht viel dazu sagen, der Doktor weiß, was sie von solchen Plänen hält, im Grunde glaubt er selbst nicht daran. Aber die Kinder sind eine große Freude, er ist froh und dankbar, hier unter ihnen zu sein. Er kann sogar schlafen in all dem Trubel, in der größten Mittagshitze über eine Stunde, bevor ihn Gerti und Felix noch einmal ins Wasser holen.
Am zweiten Tag beginnt er, die ersten Gesichter zu unterscheiden. Seine Augen schweifen nicht mehr wahllos, er entwickelt Vorlieben, entdeckt ein paar lange Mädchenbeine, einen Mund, Haare, eine Bürste, die durch diese Haare fährt, ab und zu einen Blick, drüben die große Dunkle, die mehrmals herübersieht und dann so tut, alssei sie’s nicht gewesen. Zwei, drei Mädchen erkennt er an der Stimme, er beobachtet, wie sie weit vorn ins Wasser springen, wie sie durch den heißen Sand laufen, Hand in Hand, unter fortwährendem Gekicher. Er hat Schwierigkeiten mit ihrem Alter. Mal hält er sie für siebzehn, dann scheinen es doch noch Kinder zu sein, und eben dieses Changieren macht das Vergnügen, sich mit ihnen zu beschäftigen, aus.
Vor allem die große Dunkle hat es ihm angetan. Er könnte Gerti fragen, wie sie heißt, denn Gerti hat bereits mit ihr gesprochen, aber auf diese Weise möchte er sein Interesse nicht zeigen. Er würde sie gerne zum Lachen bringen, denn leider lacht sie nie. Sie wirkt trotzig, als würde sie sich seit Langem über etwas ärgern. Am späten Nachmittag sieht er sie vom Balkon, wie sie im Garten der Ferienkolonie den Tisch deckt, und dann, am Abend, wie sie in einem Theaterstück die weibliche Hauptrolle spielt. Was sie sagt, kann er nicht verstehen, aber er sieht, wie sie sich bewegt, mit welcher Hingabe sie spielt, offenbar in der Rolle einer Braut, die gegen ihren Willen verheiratet werden soll, so jedenfalls reimt er sich die Handlung zusammen, er hört das Lachen der Kinder, den Applaus, zu dem sich die Dunkle mehrfach verbeugt.
Noch als er Elli und den Kindern davon berichtet, ist er voller Wehmut. Vor dem Krieg hat er Leute vom Theater gekannt, den wilden Löwy, den sein Vater so verachtet hat, die jungen Schauspielerinnen, die ihren jiddischen Text kaum konnten, aber was lag in ihrem Spiel für eine Kraft, wie hatte er damals noch geglaubt.
Als Gerti das Mädchen am nächsten Vormittag zu seinem Strandkorb führt, sieht er es erstmals lächeln. Anfangs ist sie schüchtern, aber als er ihr sagt, dass er sie spielen gesehen hat, wird sie bald zutraulich. Er erfährt, dass sieTile heißt, macht ihr Komplimente. Wie eine richtige Schauspielerin habe sie ausgesehen, worauf sie erwidert, sie habe hoffentlich wie eine Braut ausgesehen, denn eine Schauspielerin habe sie nicht
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