Die Herrlichkeit des Lebens
sind da, das Fräulein, alle wie versteinert. Das meiste nimmt sie bloß zur Kenntnis, sein früheres Zimmer, in dem sie wohnen darf, sein Bett, seinen Schreibtisch, der für sie nur ein beliebiger Schreibtisch ist. Wenn sie nicht weint, sitzt sie am großen Tisch und versucht sich zu erinnern. Franz hat ihr Leben in seinen Briefen ziemlich beschönigt, jetzt kann sie das eine oder andere korrigieren und erzählen, wie es wirklich war, wie gut sie es miteinander hatten, vom ersten Tag an. Solange sie erzählt, scheint alles erträglich. Das offene Grab ist schlimm, die Berge von Blumen, dass es keinen Stein gibt, aber nach einer Weile doch, sodass sie wieder ein Ziel hat, es gibt so etwas wie einen Treffpunkt, an dem sie ihm täglich berichten kann. Freunde von Franz haben eine kleine Lesung organisiert, bei der verschiedene seiner Sachen vorgetragen werden, aber das meiste bleibt ihr fremd, als wäre es von einem Franz, den sie nicht kennt. Ist man für verschiedene Menschen jeweils ein anderer? Franz hat sich vor seinen Eltern bis zuletzt gefürchtet, doch sie sieht nur, dass sie alt sind, wie sie mit ihr trauern, dass sie sie nicht wegschicken. Der Juni vergeht und der halbe Juli, und noch immer ist sie in seiner Stadt. Einmal hat sie eine unerfreuliche Begegnung mit Max, der verschiedene Manuskripte von Franz entdeckt hat, Romane, sagt er, Erzählungen, Fragmente, die er nach und nach veröffentlichen will, und so fragt er alle möglichen Leute, ob sie etwas haben und ihm geben können. Als sie verneint, nimmt er es hin, doch bei einem zweiten Treffen bohrt er weiter, ihr habt euch doch geschrieben, wo sind die letzten Notizhefte, aber sie hat inzwischen nachgedacht und ist zu dem Schluss gekommen, dass er kein Recht darauf hat. Ende Juli meint sie zu bemerken, dass sich etwas in ihr klärt. An seinem Geburtstag Anfang des Monats hat sie noch geglaubt, sie müsse vor Schmerz zerspringen, jetzt merkt sie, wie die Kräfte wiederkehren. Ottla und dieMutter haben viel von Franz erzählt, wie er als Kind war, als Student, sie haben ihr Prag gezeigt, den Fluss und die Brücken, die Wege, die er gegangen ist, die alten Gassen, das Geschäft des Vaters. Auch der Vater vermisst Franz, eher still, mit einem Kopfschütteln, das auch Dora einschließt, als hätte er Franz eine wie Dora nicht zugetraut. Soll sie zurück nach Berlin? Sie wüsste nicht, wohin sonst, selbst wenn dort alles an Franz erinnert. Aber kann es einen Ort geben, wo sie ohne Franz ist? Auch Judith hat geschrieben, sie will das Kind behalten und wartet ungeduldig auf ihre Rückkehr. Noch zögert sie. Es ist Anfang August, sie hat sich eine Fahrkarte besorgt, die Koffer sind gepackt, sie könnte einfach gehen, ohne großen Abschied, und genau das macht sie. Ich werde ihnen schreiben, sagt sie sich, aber nun fährt sie erst mal nach Berlin, wo ein heißer Sommer auf sie wartet und die Bücher von Franz. Sie hat sie alle dabei, auch das neue, für das es noch zu früh ist, deshalb blättert sie in den alten, liest hie und da einen Anfang, den Titel Elf Söhne findet sie auf Anhieb sehr schön, er klingt doch sehr nach Franz.
Nachbemerkung und Dank
Der Briefwechsel zwischen Franz Kafka und Dora Diamant ist nicht erhalten. Dora Diamant hat im Sommer 1924 zwanzig Notizbücher und 35 Briefe Kafkas mit nach Berlin genommen, die im August 1933 von der Gestapo bei einer Hausdurchsuchung konfisziert werden und seither als verschollen gelten. Dora Diamant lebte bis 1936 in Deutschland und danach drei Jahre in der Sowjetunion. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs emigrierte sie nach England, wo sie im August 1952 im Alter von 54 Jahren starb. Kafkas Vater lebte bis 1931, seine Mutter bis 1934. Die Schwestern Elli, Valli und Ottla sowie seine Nichte Hanna wurden 1942/43 in den Vernichtungslagern Chelmno und Auschwitz ermordet.
Folgenden Personen danke ich für kritische Lektüre und Unterstützung bei der Recherche: Prof. Dr. Peter-André Alt (Freie Universität Berlin), Kathi Diamant (San Diego State University), Dr. Hans-Gerd Koch (Bergische Universität Wuppertal), Hermann Kumpfmüller, Stefan Kumpfmüller, Matthias Landwehr, Helge Malchow, Olaf Petersenn, Dr. Annelie Ramsbrock (Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam), Prof. Dr. Klaus Wagenbach.
[Menü]
Das Buch
Die Liebe eines Lebens
Überlebensgroß ist der Mythos Franz Kafka, dessen Nachruhm als Schriftsteller scheinbar mit einem weithin unglücklichen Leben erkauft wurde. Doch nun wirft
Weitere Kostenlose Bücher