Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe
sie die Knie an den Leib gezogen und sich so eng in das Bärenfell eingewickelt hatte, wie es überhaupt nur ging, zitterte sie vor Kälte am ganzen Leib. Bevor sie sich auf den Rückweg von der Lichtung gemacht hatten, hatten sie ausgiebig von dem eiskalten, klaren Wasser aus der Quelle getrunken, die neben ihr entsprang, doch in ihrem Mund war trotzdem ein schlechter Geschmack. Sie würde Fieber bekommen, das spürte sie.
»Aber es ist schon spät«, widersprach sie trotzdem und auch jetzt nicht aus Überzeugung, sondern abermals aus dem Gefühl heraus, es tun zu müssen. Ihre Mutter bestand sonst unerbittlich darauf, dass sie mit dem ersten wirklichen Licht des Tages aufstand, selbst im Winter, wenn es nicht unbedingt etwas zu tun gab und sie sich manchmal so sehr gewünscht hätte, nur noch eine kleine Weile unter dem kuschelig warmen Fell liegen zu bleiben. »Ich muss aufstehen und.«
»Heute nicht«, unterbrach sie ihre Mutter. »Wenigstens nicht sofort. Ich mache dir einen Sud aus Kräutern, damit du nicht krank wirst. Bis er fertig ist, kannst du noch liegen bleiben und dich aufwärmen.«
Arri hütete sich, ihrer ersten Regung nachzugeben und zu widersprechen. Sie gab ganz im Gegenteil endlich den Kampf gegen ihre Augenlider auf, die plötzlich unerträglich schwer zu werden schienen. Sie fror noch immer erbärmlich, spürte aber jetzt, wie die Wärme ganz allmählich in ihren Körper zurückströmte, und beschloss, die unerwartete Großzügigkeit ihrer Mutter auszunutzen und sich möglicherweise sogar noch ein paar Augenblicke Schlaf zu stehlen, bis der wärmende Kräutersud zubereitet war.
Sosehr sie den Sommer mit seiner Wärme und seinen langen Tagen genoss, sosehr hasste sie die allzu kurzen Nächte, in denen sie so wenig Schlaf bekam. Und diese Nacht war nicht nur deutlich kürzer als alle anderen gewesen; die Zeit, die sie zusätzlich wach gelegen war, hatte sie auch überaus angestrengt. Und als wäre das alles noch nicht genug, spürte sie nun jeden einzelnen Kratzer, jeden einzelnen blauen Fleck und jede einzelne Prellung, die sie bei ihrer ersten Unterweisung davongetragen hatte, mit quälender Intensität. Sie sollte ihre Mutter nicht nach einem Trank gegen das Fieber, sondern lieber nach einer Salbe gegen blaue Flecke fragen.
Mit diesem Gedanken schlief sie ein und erwachte erst, als helles Sonnenlicht durch ihre geschlossenen Lider drang und so heftig in ihren Augen kitzelte, dass sie niesen musste. Unwillkürlich hob sie die Hand vor das Gesicht - eine weitere Eigentümlichkeit, auf die ihre Mutter beharrte und die ihr schon so in Fleisch und Blut übergegangen war, dass sie sie nicht einmal mehr wahrnahm, obwohl sie ihren Sinn niemals eingesehen hatte; niemand im Dorf tat so etwas -, nieste noch einmal und noch heftiger, fuhr dann mit einer erschrockenen Bewegung hoch und riss die Augen auf. Helles Sonnenlicht erfüllte das Haus. Es war warm, und als sie erschrocken den Kopf in Richtung der Helligkeit wandte, musste sie die Augen zusammenkneifen, denn die Sonne schien genau durch das nach Süden hin offene Guckloch hindurch. Das bedeutete, dass es fast Mittag war. Sie hatte verschlafen! Ihre Mutter würde ihr tagelang Vorhaltungen machen und.
»Bleib noch einen Moment liegen«, drang Leas Stimme in ihre Gedanken. »Ich hole Wasser, damit du dich waschen kannst.«
Überrascht riss Arri den Blick vom Guckloch los und sah gerade noch die Gestalt ihrer Mutter hinter dem Muschelvorhang verschwinden. Sie war ihr nicht böse, dass sie verschlafen hatte? Arri war vollkommen verwirrt. So etwas war bisher nur ein einziges Mal vorgekommen, vor drei oder vier Sommern, als sie wirklich krank gewesen war und tagelang dagelegen und mit einem schweren Fieber gerungen hatte. Hinterher hatte ihre Mutter ihr erzählt, dass sie um ein Haar gestorben wäre. Aber heute war sie nicht krank. In ihrem Mund war immer noch ein schlechter Geschmack, und sie hatte tatsächlich leichtes Fieber, aber es war nicht schlimm. Als sie sich noch weiter unter ihrer Decke aufrichtete, biss sie zwar die Zähne zusammen, denn sie hatte das Gefühl, den allerschlimmsten Muskelkater ihres ganzen Lebens zu haben, aber nichts davon hätte ihre Mutter unter gewöhnlichen Umständen als Grund anerkannt, bis Mittag im Bett liegen zu bleiben und zu schlafen. Arris Verwirrung wuchs ins Unermessliche.
Vorsichtig, weil ihr jede Bewegung Unbill und manche sogar wirkliche Schmerzen bereitete, setzte sie sich noch weiter auf, streifte die
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