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Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Titel: Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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nach oben. »Jahwe, verschone uns.«
    Die drei standen im ansteigenden Wasser und beteten verzweifelt, doch Hillalum wusste, dass es vergebens war: Sein Schicksal hatte ihn nun doch eingeholt. Jahwe hatte von den Menschen nicht verlangt, den Turm zu errichten oder das Gewölbe zu durchbohren; die Menschen allein waren für die Entscheidung, den Turm zu bauen, verantwortlich, und sie würden bei diesem Unternehmen ihr Leben lassen, so wie bei jeder anderen Anstrengung, der sie auf Erden nachgingen. Ihre Rechtschaffenheit konnte sie nicht vor den Folgen ihrer Taten schützen.
    Das Wasser erreichte ihren Brustkorb. »Lasst uns nach oben gehen«, rief Hillalum.
    Sie mühten sich gegen die Strömung den Tunnel hinauf, während das ansteigende Wasser ihnen auf den Fersen blieb. Die wenigen Fackeln, die den Tunnel erhellten, waren ausgegangen, sodass sie die Stufen im Dunkeln hinaufstiegen, Gebete murmelnd, die sie nicht hören konnten. Die Holztreppen am Ende des Tunnels waren fortgerissen worden und hatten sich weiter unten im Tunnel festgeklemmt. Sie kletterten über die Holztrümmer, bis sie die glatte Steinrampe erreichten. Dort warteten sie ab, bis das Wasser sie höher hinauftrug.
    Wortlos harrten sie aus, denn ihre Gebete waren erschöpft. Hillalum stellte sich vor, dass er im schwarzen Schlund Jahwes stand, während der Mächtige tief von den Wassern des Himmels trank, bereit, die Sünder hinunterzuspülen.
    Das Wasser stieg weiter an und trug sie aufwärts, bis Hillalum mit den Händen die Decke berühren konnte. Der große Riss, durch den das Wasser hereinströmte, befand sich gleich neben ihm. Nur eine kleine Luftblase war noch übrig. Hillalum schrie: »Wenn diese Kammer voll ist, können wir himmelwärts schwimmen.«
    Er wusste nicht, ob die anderen ihn gehört hatten. Als das Wasser die Decke erreichte, holte er ein letztes Mal Luft und schwamm durch den Riss. Er würde näher am Himmel sterben als je ein Mensch zuvor.
    Der Spalt zog sich viele Ellen lang hin. Sobald Hillalum ihn durchquert hatte, entglitt die Steinschicht seinen Fingern, und seine zappelnden Glieder berührten nichts mehr. Einen Moment lang spürte er, wie eine Strömung ihn erfasste, dann war er sich dessen nicht mehr sicher. Nur von Schwärze umgeben, überkam ihn wieder dieses entsetzliche Schwindelgefühl, das ihn beim ersten Anblick des Himmelsgewölbes ergriffen hatte: Er wusste nicht mehr, wo oben und unten war, rechts oder links.
    Er strampelte mit den Beinen, hätte aber nicht sagen können, ob er sich vorwärtsbewegte.
    Womöglich trieb er hilflos in ruhigem Wasser, womöglich aber wurde er von einer rasenden Strömung herumgewirbelt; er spürte nichts außer betäubender Kälte. Nirgends sah er irgendein Licht. Hatte das Wasser des Speichers keine Oberfläche, wo er auftauchen könnte?
    Dann stieß er wieder gegen Stein. Seine Hände ertasteten einen Riss in der Wand. War er wieder dort, woher er gekommen war? Er wurde gewaltsam hineingezogen und hatte keine Kraft mehr, sich dem zu widersetzen. Er wurde in den Tunnel gespült und gegen die Wände geworfen. Der Tunnel war unglaublich tief, wie ein langer Minenschacht. Seine Lungen fühlten sich an, als wollten sie bersten, doch der Tunnel nahm immer noch kein Ende. Schließlich konnte er nicht länger die Luft anhalten und atmete aus. Die Schwärze, die ihn umgab, drang in seine Lunge ein – er würde ertrinken.
    Doch auf einmal wichen die Wände vor ihm zurück. Er wurde von einem tosenden Strom weitergetragen, spürte Luft über dem Wasser! Dann spürte er nichts mehr.
     
    Hillalum erwachte mit dem Gesicht auf kaltem Stein. Er konnte nichts sehen, aber in der Nähe seiner Hände Wasser fühlen. Er drehte sich um und stöhnte; alles tat ihm weh, er war nackt und seine Haut an vielen Stellen aufgeschürft oder von der Nässe runzelig, doch er atmete Luft.
    Nach einiger Zeit gelang es ihm schließlich aufzustehen. Wasser umfloss geschwind seine Knöchel. Ein Schritt in eine Richtung, und das Wasser wurde tiefer. In die andere Richtung, und er stand auf trockenem Stein – Schiefer, dem Gefühl nach.
    Es war völlig dunkel, wie in einer Mine ohne Fackeln. Mit geschundenen Fingerspitzen tastete er sich den Boden entlang, bis dieser anstieg und eine Wand bildete. Langsam, wie ein blindes Geschöpf, kroch er umher. Er fand den Ursprung des Wassers, eine große Öffnung im Boden. Da fiel ihm alles wieder ein! Durch dieses Loch war er vom Speicher ausgespuckt worden. Er kroch,

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