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Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Titel: Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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nicht wie ein ängstliches Kind wirken, konnte sich aber nicht überwinden, sich an den Rand eines Abgrunds zu setzen, der sich Tausende von Ellen unter seinen Füßen erstreckte. Er legte sich auf den Bauch, nur mit dem Kopf an der Kante. Nanni gesellte sich zu ihm.
    »Wenn die Sonne untergeht, dann schaut an der Seite des Turmes hinunter.« Hillalum warf einen Blick nach unten und schaute dann schnell zum Horizont.
    »Was ist hier am Sonnenuntergang anders?«
    »Ihr müsst bedenken, dass es, wenn die Sonne hinter die Bergspitzen im Westen sinkt, in der Ebene von Shinar dunkel wird. Hier jedoch sind wir höher als die Berggipfel und können also die Sonne immer noch sehen. Die Sonne muss für uns noch weiter untergehen, bis wir Nacht haben.«
    Hillalum war fassungslos. »Die Schatten der Berge markieren den Beginn der Nacht. Auf der Erde dort unten wird es früher Nacht als hier oben.«
    Kudda nickte. »Ihr könnt zuschauen, wie die Nacht den Turm emporklettert, vom Boden zum Himmel. Sie bewegt sich rasch, aber ihr solltet sie sehen können.«
    Er beobachtete den roten Feuerball für eine Weile, schaute dann hinab und streckte den Finger aus. »Jetzt!«
    Hillalum und Nanni blickten hinunter. Am Fuße der gewaltigen Säule lag das kleine Babylon im Dunkeln. Dann kletterte die Schwärze den Turm hinauf, wie ein Vorhang, der zugezogen wurde. Sie bewegte sich so langsam, dass Hillalum glaubte, die Augenblicke zählen zu können, doch dann, als sie näher kam, beschleunigte sich die Finsternis, bis sie schneller, als er blinzeln konnte, an ihnen vorüberraste, und dann befanden sie sich im Zwielicht.
    Hillalum drehte sich um und blickte nach oben, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Dunkelheit den Rest des Turmes verschlang. Allmählich wurde der Himmel dunkler, während die Sonne in weiter Ferne hinter dem Rand der Welt versank.
    »Ein beeindruckender Anblick, nicht wahr?«, sagte Kudda.
    Hillalum blieb ihm die Antwort schuldig. Zum ersten Mal verstand er, was die Nacht war: der Schatten der Erde selbst, der wider den Himmel geworfen wurde.
     
    Nachdem sie zwei weitere Tage hinaufgestiegen waren, hatte sich Hillalum etwas mehr an die Höhe gewöhnt. Obwohl sie sich fast fünftausend Schritt senkrecht über dem Erdboden befanden, war er in der Lage, am Rand der Rampe zu stehen und hinaufzuschauen. Allerdings hielt er sich an einer der Säulen fest und lehnte sich vorsichtig nach hinten. Da bemerkte er, dass der Turm nicht mehr wie eine glatte Säule aussah.
    Er fragte Kudda: »Es hat den Anschein, dass sich der Turm verbreitert. Wie kann das sein?«
    »Sieh genauer hin. Dort oben sind hölzerne Balkone an den Seiten befestigt. Sie sind aus Zypressen gemacht und werden von Flachsseilen gehalten.«
    Hillalum kniff die Augen zusammen. »Balkone? Wozu?«
    »Auf ihnen wird Erde ausgebreitet, sodass man dort Gemüse anbauen kann. Wasser ist knapp in jener Höhe, weshalb Zwiebeln am weitesten verbreitet sind. Weiter oben, wo es öfter regnet, gibt es auch Bohnen.«
    »Wie kann es dort oben Regen geben«, fragte Nanni, »der nicht hier unten fällt?«
    Kudda sah ihn überrascht an. »Er verdunstet in der Luft, ehe er ankommt, was sonst?«
    »Oh, natürlich.« Nanni zuckte mit der Schulter.
    Am Ende des darauffolgenden Tages erreichten sie die ersten Balkone. Dabei handelte es sich um flache, dicht mit Zwiebeln bepflanzte Vorbauten, die an Seilen befestigt waren, welche an der Turmmauer knapp unter den nächsthöheren Balkonen festgemacht waren. In jeder Etage barg das Innere des Turmes mehrere enge Räume, in denen die Familien der Zugmannschaften lebten. Frauen saßen in den Türöffnungen und nähten Tunikas oder gruben draußen Knollen aus. Kinder spielten Fangen und jagten einander über die Rampen und zwischen den Wagen der Karrenzieher auf der Rampe hindurch; der Abgrund, der neben ihnen gähnte, schien ihnen nicht die geringste Angst zu machen. Die Turmbewohner erkannten die Bergarbeiter gleich, und alle winkten und lächelten.
    Als es Zeit für das Abendessen war, wurden alle Karren abgestellt und Essen und andere Güter für die hier Wohnenden abgeladen. Die Karrenzieher begrüßten ihre Familien und luden die Bergarbeiter zum Essen ein. Hillalum und Nanni aßen bei Kuddas Familie und genossen ein Mahl aus getrocknetem Fisch, Brot, Dattelwein und Früchten.
    Hillalum bemerkte, dass dieser Abschnitt des Turmes einer kleinen Stadt glich, die sich zwischen zwei Straßen erstreckte – den auf- und abwärts

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