Die Inszenierung (German Edition)
den Skandal gestanden. Ein Professor hat ein paar Tage und Nächte lang das Paradies produziert.
Und dann?
Dann die Vertreibung.
Also?
Nichts.
Kein Stück mehr?
Doch.
Titel?
Ums Überleben.
Sag!
Augustus sucht jetzt eine andere Position, eine andere Haltung. Er stellt einen Stuhl so an den Tisch, dass er darüber auf den Tisch steigen kann. Er holt seinen Hut, zieht seine Regie-Jacke an, dann steigt er auf den Tisch. Sobald er droben ist, prüft er die Lage. Ja, so will er jetzt stehen. Frei und beweglich und hat das ganze Publikum im Blick.
Ich rede anderen nach dem Mund. Ich soll froh sein, dass ich noch lieben kann. Liebe, die auf Gegenliebe trifft, weiß nichts von sich. Erst wenn du keine Chance hast, machst du eine Erfahrung. Wenn Liebe auf Gegenliebe trifft, sollte man gar nicht von Liebe sprechen. Es ist ein sich steigernder Austausch. Man gibt und kriegt mehr, als man gibt, und gibt noch mehr, als man kriegt, und kriegt wieder mehr, als man gegeben hat, man kriegt alles. Es ist das beste Geschäft, das man machen kann. Liebe ist etwas anderes. Die Liebe für nichts: Das ist Liebe. Nur eine nicht glücken könnende Liebe ist Liebe. Alles andere ist eine Kalkulation. Keine Chance zu haben macht aus der Liebe die innigste Krankheit, die es geben kann. Bilde dir etwas ein auf diese Krankheit. Es ist die Armut, die es mit jedem Reichtum aufnehmen kann. Du bist der wachste Mensch der Welt. Du bestehst nur noch aus Erfahrung. Du bist eine Wunde, über der die Sonne nicht untergeht. Du darfst dir einbilden, das Ziel der Geschichte zu sein. Nur was wehtut, wird Geschichte. Nur was wehgetan hat, ist Geschichte geworden. Dass es das Glück nicht gibt, war schon vorher klar. Du stehst, deine Hände strecken sich aus, deine Augen sehen genauer, als je gesehen wurde. Du bist nicht mehr zu täuschen. Du bist enttäuscht. Du bist die Wahrheit ohne Verdienst. Du bist die reine Willenlosigkeit. Du erlebst, was vor dir keiner erleben konnte. Weil deine Liebe keine Antwort fand, weil du von keiner Glücksmasche hereinzulegen warst, hast du entdeckt: das Unglücksglück. Das Unglücksglück ist das alles enthaltende, alles spendende, alles wendende Glück. Wer davon noch nichts weiß, weiß noch nichts. Und es lässt sich nur auf eine einzige Art feiern. Feiere du also das Unglücksglück. Augustus!
Er steigt vom Tisch, legt den Hut auf den Tisch, nimmt die Pistole, schießt in die Luft und ruft:
Augustus hat sich umgebracht.
Dann legt er sich auf den Boden, die Pistole neben sich, die Augen geschlossen. Sofort geht die Tür auf, das Sofa wird durch die aufgehende Tür zur Seite geschoben. Es drängen herein: der Pfleger Robert, Schwester Alexandra, der Professor, ein Arzt, eine Assistentin, Lydia, Gerda, Ute-Marie, Vinze, Hans Georg, Ursula, Berti. Hans Georg in der hellen Jacke mit den großen Karos und mit seinem neuen Hut. Der Professor will sich sofort über den Liegenden beugen, hat schon das Stethoskop gezückt, aber Robert lässt das nicht zu. Robert beugt sich zum Liegenden hinab und bringt es erstaunlicherweise fertig, Augustus hochzuheben und ihn aufs Bett zu legen. Augustus liegt mit geschlossenen Augen. Alle stehen still da. Alle erwarten irgendetwas. Augustus sagt:
Ute-Marie, Nachtschwester, komm. Gerda, Tagschwester, sei so gut.
Beide gehen ans Bett. Ute-Marie an die rechte, Gerda an die linke Seite. Gleichzeitig tritt Hans Georg ans Fußende des Bettes. Er führt Ursula zu Gerda hin und Berti zu Ute-Marie. Augustus greift, ohne die Augen zu öffnen, nach Gerdas und Ute-Maries Händen und führt sie zusammen. Dann umfasst er die zwei Hände mit seinen Händen. Das Gleiche tut Hans Georg mit Ursulas und Bertis Händen. Als alles geschehen ist, sagt Robert dialektnah:
All the world’s a stage.
Und Augustus sagt:
Badenweiler.
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Über Martin Walser
Martin Walser, geboren 1927 in Wasserburg, lebt in Überlingen am Bodensee. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis und 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Zuletzt veröffentlichte er den Roman «Das dreizehnte Kapitel», den die Süddeutsche Zeitung als «ein Meisterwerk der Schreib- und Empfindungskunst, eine der bewegendsten Liebesgeschichten auf der Richter-Skala der Literatur» feierte, und «Meßmers Momente».
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