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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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konnte.
    Martin, der unter den Augen dunkle Schatten hatte, die nicht von zu wenig Schlaf herrührten, zog behutsam den ersten Rahmen heraus und hielt ihn in die Mittagssonne, um die Waben in Augenschein zu nehmen. Hunderte aufgeregt surrender Arbeitsbienen klammerten sich an den Waben fest, die ziemlich leer gefressen waren, aber noch genügend Nahrung für die Kolonie enthielten. Er kratzte eine Probe vom Futterkranz ab und untersuchte sie auf Anzeichen von Amerikanischer Faulbrut. Als er nichts entdeckte, setzte er den Rahmen sachte wieder in den Stock ein und trat dann zurück. Er zog sich den Helm vom Kopf und schlug spielerisch nach der Hand voll Brutbienen, die ihn rachedurstig verfolgten. »Heute nicht, Freunde«, sagte Martin leise lachend, während er sich ins Haus zurückzog und die Tür hinter sich zuzog.
    Unten, im rückwärtigen Zimmer der einstigen Billardhalle, die ihm als Wohnung diente, zog sich Martin den Overall aus, warf ihn auf die ungemachte Pritsche und goss sich einen Whiskey ein. Aus der Blechbüchse mit indischen Zigaretten nahm er eine Ganesh Beedie und zündete sie an. Während er an den Eukalyptusblättern sog, setzte er sich in den Drehsessel mit dem kaputten Rohrgeflecht, das ihn am Rücken scheuerte. Er hatte ihn billig auf dem Flohmarkt erstanden, an dem Tag, als er die Billardhalle gemietet und unten an die Scheibe der Haustür den Schriftzug »Martin Odum – Privatdetektiv« geklebt hatte. Der Qualm der Beedie roch wie Marihuana und wirkte auf ihn wie Rauch auf Bienen: Er bekam Hunger. Er machte eine Dose Sardinen auf, löffelte sie auf einen Teller, der seit mehreren Tagen nicht gespült war, und aß sie mit einer trockenen Scheibe Pumpernickel, die er im Kühlschrank entdeckt hatte, der (wie ihm wieder einfiel) dringend abgetaut werden musste. Mit dem Rest Pumpernickel wischte er den Teller sauber, dann drehte er ihn um und benutzte ihn als Untertasse. Diese Methode hatte Dante Pippen sich in Pakistan angewöhnt, in der wilden Gegend am Khaiberpass. Die paar Amerikaner, die dort Agenten betreuten oder Operationen durchführten, aßen Reis oder fettiges Hammelfleisch mit den Fingern vom Teller, wenn sie so was wie Teller hatten, drehten ihn dann um und aßen von der Rückseite Obst, wenn sie das Glück hatten, an so etwas wie Obst zu kommen. Jedes Mal, wenn ihm etwas aus der Vergangenheit einfiel, und sei es auch noch so banal, empfand Martin eine leichte Genugtuung. Geschickt machte er mit einem sehr scharfen Messer ein paar feine Schnitte in eine Apfelsine und schälte sie auf dem umgedrehten Teller. »Komisch, dass man manche Sachen gut hinkriegt, auch wenn man sie zum ersten Mal macht«, hatte er Dr. Treffler gegenüber in einer der ersten Sitzungen eingeräumt.
    »Zum Beispiel?«, hatte sie mit tonloser Stimme nachgefragt, die nicht das geringste Interesse an der Antwort verriet.
    »Eine Apfelsine schälen. Ein Stück Zündschnur für Plastiksprengstoff abschneiden, das lang genug ist, um sich in Sicherheit zu bringen. Eine unauffällige Materialübergabe an einen Agenten auf einem überfüllten Souk in Beirut.«
    »Welche Legende hatten Sie in Beirut?«
    »Dante Pippen.«
    »War das nicht der«, Dr. Treffler blätterte eine weitere Seite in ihrem Ringbuch um, »der Geschichte an einem Junior College unterrichtet hat? Der das Buch über den amerikanischen Bürgerkrieg geschrieben und auf eigene Kosten veröffentlicht hat, weil kein Verlag interessiert war?«
    »Nein, das war Lincoln Dittmann. Pippen war der irische Attentäter aus Castletownbere, der als Sprengstoffausbilder auf der ›Farm‹, dem Ausbildungslager der CIA, angefangen hat. Später hat er dann als angeblicher Sprengstoffexperte der IRA eine sizilianische Mafiafamilie infiltriert, die Taliban-Mullahs in Peschawar und eine Hisbollah-Einheit im Bekaa-Tal im Libanon. Bei dieser letzten Mission ist seine Tarnung aufgeflogen.«
    Dr. Treffler nickte und machte sich auf dem Blatt eine weitere Notiz. »Bei Ihren vielen Identitäten komme ich kaum noch mit.«
    »Ich auch nicht. Deshalb bin ich ja hier.«
    Sie blickte von dem Ringbuch auf. »Sind Sie sicher, dass Sie all ihre operativen Biographien identifiziert haben?«
    »Alle, an die ich mich erinnere.«
    »Könnte es sein, dass Sie welche verdrängen?«
    »Ich weiß nicht. Ihrer Theorie nach besteht ja die Möglichkeit, dass ich mindestens eine verdränge.«
    »In der Fachliteratur zu dem Thema herrscht weitestgehend Übereinstimmung, dass –«
    »Ich dachte,

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