Die Kampagne
Zollbeamte und wandte sich wieder seiner Pflicht zu. »Sind Sie geschäftlich oder als Tourist hier?«
»Beides. Warum sollte ich so weit reisen und mich im Vorfeld für eins von beiden entscheiden?«
Der Mann lächelte. »Haben Sie etwas zu verzollen?«
»Ik heb niets aan te geven.«
»Sie sprechen Niederländisch?«, fragte der Beamte überrascht.
»Tut das nicht jeder?«
Der Mann lachte und versah Shaws Pass mit einem altmodischen Tintenstempel anstatt mit einer der Hightechsignaturen, wie sie heutzutage in vielen Ländern üblich waren. Es gab sogar Stempel, die eine digitale Signatur auf das Papier übertrugen. Shaw war Tinte immer schon lieber gewesen.
»Genießen Sie Ihren Aufenthalt«, sagte Shaws neuer niederländischer Freund, als er ihm den Pass zurückgab.
»Das habe ich vor.« Shaw ging zum Ausgang und zu dem Zug, der ihn in zwanzig Minuten zum Hauptbahnhof von Amsterdam bringen würde.
Von dort würde es dann immer aufregender werden. Aber zunächst hatte er eine Rolle zu spielen.
Er hatte nämlich Publikum.
Tatsächlich beobachteten seine Zuschauer ihn just in diesem Augenblick.
Kapitel 4
V om Bahnhof aus nahm Shaw ein Taxi zum Amstel Intercontinental Hotel mit seinen 79 exklusiven Zimmern, viele mit beneidenswerter Aussicht auf die Amstel, obwohl Shaw nicht deswegen hier war.
Die Rolle, die er während der nächsten drei Tage spielen würde, war die eines Touristen. Es gab nur wenige Städte, die besser dafür geeignet waren als Amsterdam mit seinen 750 000 Einwohnern, von denen nur die Hälfte Niederländer waren. Shaw machte eine Bootsfahrt und schoss Fotos von der Stadt, die mehr Kanäle besaß als Venedig und fast 13 000 Brücken auf einer Fläche von nur knapp 200 Quadratkilometern, von denen obendrein ein Viertel Wasserfläche war.
Shaw fühlte sich besonders von den Hausbooten angezogen; fast 3000 waren entlang der Kanäle verankert. Sie gefielen ihm vor allem, weil sie etwas fest Verwurzeltes repräsentierten; zwar trieben sie auf dem Wasser, wurden aber nie bewegt. Und häufig wurden sie von einer Generation an die nächste weitervererbt.
Wie es wohl ist, sinnierte Shaw, so innig mit einem Ort verbunden zu sein?
Später zog er sich Shorts und Laufschuhe an und joggte durch den weitläufigen Oosterpark in der Nähe des Hotels. Shaw war im wahrsten Sinne des Wortes sein Leben lang gerannt. Doch wenn alles nach Plan lief, würde es damit bald ein Ende haben - entweder das, oder er wäre tot. Dieses Risiko jedoch ging er mit Freuden ein. In gewisser Weise war er nämlich schon tot.
Shaw nippte an einem Kaffee im Bulldog, Amsterdams berühmtester Cafekette, und beobachtete die Menschen, wie sie ihren Geschäften nachgingen. Er behielt auch die Männer im Auge, die ihn so offenkundig beobachteten. Oh, es war erbärmlich, Amateuren zuschauen zu müssen - in diesem Fall Leuten, die nicht die leiseste Ahnung vom Observieren hatten.
Am nächsten Tag aß er zu Mittag in einem seiner Lieblingsrestaurants in der Stadt, das von einem alten Italiener geführt wurde. Die Gattin saß den ganzen Tag an einem Tisch und las Zeitung, während ihr Gemahl als Kellner, Küchenchef, Kassierer und Tellerwäscher zugleich fungierte. Es gab hier nur vier Barhocker und fünf Tische, das Reich der Frau abgezogen, und potenzielle Gäste mussten erst einmal am Eingang warten, wo der Mann sie in Augenschein nahm. Wenn er nickte, bekam man etwas zu essen. Drehte er sich wortlos um, musste man sich ein anderes Restaurant suchen.
Shaw war noch nie abgewiesen worden. Vielleicht lag es an seiner imposanten Statur oder den leuchtend blauen Augen, die jeden in ihren Bann zogen. Der wahrscheinlichste Grund jedoch war, dass er und der Wirt einst zusammengearbeitet hatten - und das nicht in der Gastronomie.
Am Abend warf Shaw sich in Schale und genoss im Musiektheater eine Oper. Natürlich hätte er nach Ende der Vorstellung zu seinem Hotel zurückgehen können; stattdessen beschloss er, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Wegen der heutigen Nacht war er überhaupt erst nach Holland gekommen. Jetzt war er kein Tourist mehr.
Als er sich dem Rotlichtbezirk näherte, bemerkte er eine Bewegung in einer dunklen, besonders schmalen Gasse. Ein kleiner Junge stand dort in den Schatten, neben ihm ein grob aussehender Kerl mit offener Hose, der eine seiner großen Pranken unter den Bund des Jungen geschoben hatte.
Sofort wechselte Shaw die Richtung. Er huschte durch die Schatten und versetzte dem Mann einen
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