Die Kinderhexe
ebenfalls verschwunden.
Einigen böswilligen Gerüchten zufolge war nicht auszuschließen, dass sich Heinrich mit dem Geld selbst davongemacht hatte. Der Bischof ließ ihn steckbrieflich suchen, bisher ohne Erfolg. Das Einzige, was Helene – außer der üblen Nachrede – von ihrem Mann geblieben war, hielt nun ihre Tochter in der Hand. Es war ein kleines Bild, das Heinrich hatte anfertigen lassen. Es zeigte ihn hoch zu Ross mit der Kuriertasche und dem bischöflichen Siegel darauf. Kathi legte es jeden Abend neben das Bett, so war es das Erste, was sie beim Erwachen erblickte.
«Ist es schon so weit?», fragte sie verschlafen.
Helene nickte. «Komm, steh auf. Das Frühstück ist fertig.»
Als Helene sich erhob, fiel ihr Blick auf Kathis Beine. Das Nachthemd war ein Stück hochgerutscht und zeigte ihren Oberschenkel.
«Was ist das?», fragte sie erschrocken und schob das Nachthemd noch ein Stück höher. Mehrere Striemen traten deutlich auf der weißen Haut hervor.
Kathi versuchte sich zu entziehen, doch es gab für sie kein Entrinnen.
Helenes Befürchtung erhielt durch die Verletzungen neue Nahrung. Hatten sie etwas mit dem Töpfchen auf dem Brett zu tun?
«Woher kommt das?», fragte sie streng und zeigte auf die blutunterlaufenen Stellen.
Kathis Herz pochte. Wenn sie ihrer Mutter gestand, dass Grein sie wegen einer vermeintlichen Nachlässigkeit bestraft hatte, würde sie sich gleich das nächste Donnerwetter einhandeln. Sie wusste um die Mühen und die Kosten, die ihre Mutter auf sich nahm, um ihr eine gute Arbeitsstelle zu ermöglichen.
«Ich bin gestürzt», wich sie aus.
Doch Helene ließ sich nicht hinters Licht führen. «Lüg mich nicht an. Hat es damit zu tun?» Sie nahm das Töpfchen vom Brett und hielt es ihr vor die Nase.
«Nein, Mutter. Die Salbe habe ich selbst gemacht. Sie gehört mir.»
«Unsinn. Du kannst so etwas doch noch gar nicht.»
«Es gehört zu meiner normalen Arbeit, Heilsalben und Kräutermixturen herzustellen.»
«Weiß der Apotheker davon?»
Unschlüssig, was sie antworten sollte, wich sie dem Blick ihrer Mutter aus und gestand damit ihre Schuld ein.
Helene packte sie am Arm. «Du bringst die Salbe wieder zurück. Hörst du? Ich kann nur hoffen, dass der ehrenwerte Apotheker nachsichtig mit dir sein wird.»
Als sie ihre Tochter am Arm hielt, fiel ihr noch etwas anderes auf. Dieser Arm war seltsam dünn – zu dünn für eine gesunde Zehnjährige, die am Tag drei Mahlzeiten zu sich nahm. Hier stimmte etwas nicht.
Sie führte Kathi hinüber an den Tisch, wo eine größere Kerze stand. «Zieh dein Nachthemd aus», befahl sie. «Ich will sehen, was du sonst noch vor mir verbirgst.»
«Nein, Mutter.» Kathis Sorge wuchs, was sie sich einhandelte, würde ihre Mutter sie nackt sehen.
Helene wurde ärgerlich. «Widersprichst du etwa deiner Mutter?»
Die gottesfürchtige Erziehung ihrer Tochter ließ offensichtlich zu wünschen übrig. Die Rute hing in Griffweite, wenngleich sie bisher selten vom Nagel genommen worden war. Das letzte Mal vor drei Jahren, als ihr Mann mit Kathi das Glaubensbekenntnis geübt hatte.
«Ich sage es kein zweites Mal.»
Notgedrungen ergriff Kathi den Saum des Nachthemds und zog es sich über den Kopf.
Auch wenn das Licht der Kerze die Kammer nicht völlig erhellte, würde es ausreichen, um Helene zu zeigen, was sie besser nicht sehen sollte.
Entsetzt nahm diese die Hand vor den Mund.
«Was hast du nur angestellt?» Sie suchte Halt und sank auf einen Stuhl nieder.
Kathi blickte beschämt zur Seite. «Es tut mir leid. Ich …»
«Schweig!»
Helene schwankte zwischen Bestürzung und Zorn. Ihr Entsetzen richtete sich nicht auf ihre Tochter, vielmehr auf den Menschen, der ihr das angetan hatte – und sie meinte nicht die Striemen, sondern etwas viel Augenfälligeres.
«Seit wann geht das schon so?»
«Was meint Ihr, Mutter?»
Helene hatte Mühe, den Zorn zu unterdrücken. «Du weißt genau, was ich meine.»
«Nein, Mutter.»
«Seit wann isst du nichts mehr?»
Die Rippen konnten einzeln gezählt werden, und die Beckenknochen standen hervor. Darunter verliefen die Beine dünn bis zu den hervortretenden Knien. Das gleiche Bild bot sich ihr an den Armen und Händen. Auch sie waren schmal, nur die Gelenke waren stärker.
Sicher, in den vergangenen Wochen hatte es in der Stadt nur noch wenig zu essen gegeben, aber dieses wenige sollte dennoch ausreichen, um ein Kind bei Kräften zu halten.
Helene hatte von den Veränderungen an Kathis
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