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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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hatten uns bis zu diesem Augenblick der Wende geführt. Meine Ehrfurcht war unermeßlich - und auch meine Traurigkeit.
    Dann offenbarte sie mir einen Teil der Regel, der sich auf den dreizackigen Nagual bezieht. Sie war in einem Zustand höchster Erregung, und doch war sie ruhig. Ihre Vernunft war unübertroffen, und doch war sie frei von Vernünftelei. Ihr letzter Tag auf Erden überwältigte sie. Ihre Stimmung griff auf mich über. Es war, als sei mir die Endgültigkeit unserer Situation bis zu diesem Augenblick nicht klar gewesen. Der Umstand, daß ich mich auf meiner linken Seite befand, hatte zur Folge, daß die unmittelbare Gegenwart Vorrang gewann, was es mir praktisch unmöglich machte, über diesen Augenblick hinauszudenken. Doch die Wirkung ihrer Stimmung erfaßte einen großen Teil meiner rechtsseitigen Bewußtheit und deren Fähigkeit, bevorstehende Gefühle vorweg zu ahnen. Es war mir klar, daß ich sie nie wiedersehen würde.
    Das war unerträglich!
    Don Juan hatte mir gesagt, daß es auf der linken Seite keine Tränen gebe, daß ein Krieger nicht mehr weinen könne und daß der einzige, ihm mögliche Ausdruck von Schmerz ein Schauder sei, der direkt aus der Tiefe des Universums stamme. Es ist, als ob der Schmerz eine der Emanationen des Adlers wäre. Das Schaudern ist unendlich. Während die Nagual-Frau mit mir sprach und mich festhielt, empfand ich diesen Schauder.
    Sie legte ihre Arme um meinen Hals und drückte ihren Kopf gegen meinen. Es war mir, als wolle sie mich wie ein Stück Linnen auswringen. Ich spürte, wie etwas aus meinem Körper kam - oder aus ihrem Körper in meinen. Mein Schmerz war so heftig, und dieses Etwas überflutete mich so rasch, daß ich rasend wurde. Ich fiel auf den Boden, während die Nagual-Frau mich noch immer umarmte. Wie im Traum dachte ich, daß ich im Fallen gegen ihre Stirn gestoßen sei. Ihr Gesicht und meines waren blutüberströmt. Blut sammelte sich in ihren Augen.
    Don Juan und Don Genaro hoben mich rasch auf. Sie hielten mich fest. Ich hatte unkontrollierbare Krämpfe, wie epileptische Anfälle. Die weiblichen Krieger umringten die Nagual-Frau; dann standen sie auf einmal in der Mitte des Zimmers in einer Reihe. Die Männer traten zu ihnen. Einen Augenblick war da eine unleugbare Kette der Energie, die sie verband.
    Die Reihe bewegte sich wie eine Parade an mir vorbei. Jeder trat einen Moment auf mich zu und blieb vor mir stehen, ohne aber die Reihe zu unterbrechen. Es war, als stünden sie auf einem Förderband, das sie voranbewegte, aber einen jeden von ihnen vor mir zum Stehen
    brachte. Zuerst zogen die männlichen Kuriere vorbei, dann die weiblichen Kuriere, dann die männlichen Krieger, dann die Träumerinnen, die Pirscherinnen und schließlich die Nagual-Frau. Sie zogen an mir vorüber und blieben für ein paar Sekunden in voller Sicht, lange genug, um Lebewohl zu sagen, und dann verschwanden sie in die Schwärze der geheimnisvollen Spalte, die sich im Raum aufgetan hatte.
    Don Juan preßte meinen Rücken und linderte meinen unerträglichen Schmerz ein wenig. Er sagte, daß er meinen Schmerz verstehen könne und daß die Verbundenheit des Nagual-Mannes mit der Nagual-Frau nicht mit Worten zu beschreiben sei. Sie sei eine Folge der Emanationen des Adlers; wenn diese beiden Menschen einmal zusammengeführt und dann wieder getrennt werden, dann gebe es keine Möglichkeit, die entstehende Leere aufzufüllen, weil es keine soziale Leere sei, sondern eine Bewegung jener Emanationen.
    Und dann sagte Don Juan mir, er werde mich auf meine äußerste rechte Seite überwechseln lassen. Er sagte, dies sei ein barmherziges, wenn auch nur zeitweiliges Manöver; es werde mir für den Augenblick erlauben, zu vergessen, aber es werde mich nicht trösten, wenn ich mich einmal wieder erinnern sollte.
    Don Juan sagte mir auch, daß der Akt des Erinnerns durchaus unbegreiflich sei. In Wirklichkeit sei es ein Akt des Erinnerns an sich selbst, der nicht bei der Erinnerung an die Interaktionen ende, wie die Krieger sie auf der linken Seite ihrer Bewußtheit durchlaufen, sondern weiterführe, bis hin zum Erfassen jeder Erinnerung, die der leuchtende Körper vom Augenblick der Geburt an gespeichert hat. Die systematische Interaktion, wie Krieger sie in Zuständen gesteigerter Bewußtheit pflegen, ist nur ein Mittel, um das andere Selbst anzulocken, sich in Form von Erinnerungen zu offenbaren. Dieser Akt des Erinnerns, wiewohl anscheinend nur eine Sache von Kriegern, ist aber

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