Die Launen des Teufels
Halten, um furchtsam in die Dunkelheit zu lauschen, in der sich das Knacken dürrer Äste mit den Lauten nachtaktiver Jäger vermischte.
Als sich schließlich nach scheinbar endlosen Stunden ein Graustich durch das dichte Dach aus Nadeln stahl, atmete Anabel erleichtert auf und lehnte den Kopf an Bertrams Schulter. Lediglich einmal machten sie um die Mittagszeit Rast auf einer kleinen Lichtung, durch die sich ein munter plätscherndes Bächlein wand. Nachdem sie ihre Wasservorräte aufgefüllt, den Säugling gefüttert und die Ochsen getränkt hatten, nahmen sie die Reise wieder auf, bis sie sich um die vierte Stunde dem Waldrand näherten.
»Ich kann kaum mehr die Augen offen halten«, gestand Anabel mit einem Gähnen und rieb sich die rot geränderten Augen, die sie jedoch augenblicklich staunend aufriss, als das Fuhrwerk aus den tiefen Schatten des Waldes auftauchte. »Mein Gott«, hauchte sie, und auch Bertram entfloh ein beeindruckter Pfiff durch die Zähne.
Vor ihnen, umflossen von einem in der Sonne glitzernden Wasserlauf, erhob sich auf einem Hügel eine von einer mächtigen Mauer umgebene Stadt, in deren Mitte ein gewaltiger Kirchenbau in den Himmel ragte. Symmetrisch angeordnete Felder zeugten so weit das Auge reichte von der Fruchtbarkeit der Region, und erst allmählich begriff Anabel, dass es sich bei den ameisengleichen Kolonnen um Menschen handelte, die in die Stadt strömten.
»Straßburg«, murmelte sie und wischte eine Träne aus dem Augenwinkel. Die Heimat ihrer Mutter!
Als sich Bertrams Hand beruhigend um die ihre schloss, hob sie den Blick und schluckte mühsam. »Ich habe mich immer gefragt, wie es wohl sein würde, hierherzukommen«, gestand sie leise. »Aber so überwältigend habe ich es mir nicht vorgestellt.« Bertram nickte und hob die Zügel auf, um die Ochsen auf eines der Tore zuzusteuern, vor dem eine lange Schlange von Fuhrwerken und Fußvolk auf Einlass in die Stadt wartete. »Wir werden uns als Erstes eine Bleibe suchen«, schlug er vor und lächelte gezwungen, als ihm eine vollbusige Bäuerin anzüglich zuzwinkerte. »Dann sehen wir weiter.«
Es dauerte nahezu zwei Stunden, bis die Reihe an sie kam.
»Name, Herkunft, Begehr!«, herrschte sie der mit einer furchterregenden Hellebarde bewaffnete Wächter an, und Anabel erbleichte, als er so dicht neben den Bock trat, dass sie die Bartstoppeln an seinem eckigen Kinn deutlich sehen konnte.
»Mein Name ist Bertram Steinhauer«, erwiderte Bertram mit leicht zitternder Stimme. »Und das sind meine Gemahlin und mein Sohn.« Er zeigte auf Anabel, die hastig die Lider niederschlug, als die kalten, grauen Augen des Wächters über ihr Gesicht strichen. »Wir sind auf der Flucht vor der Seuche und bitten um Aufnahme in die Stadt.«
Der Wachmann zögerte einige Augenblicke, in denen er ihre Kleidung fachmännisch taxierte. »Seid Ihr von ehelicher Geburt?«, fragte er schließlich barsch.
Sowohl Bertram als auch Anabel nickten.
»Übt Ihr ein Handwerk aus?«
»Ich bin Steinmetz, habe aber noch kein Gesellenstück abgelegt«, gab Bertram wahrheitsgetreu zurück, was den Mann dazu veranlasste, die Stirn in Falten zu legen. »Besitzt Ihr genügend Geld, um Euch eine Unterkunft zu leisten?«
Bertram nickte erneut und wies auf die feinen Kleider und das Fuhrwerk.
»Die Aufnahmegebühr beträgt zwanzig Schillinge«, brummte der Wachhabende schließlich und hielt ihnen die schwielige Hand entgegen, in die Anabel zehn Silberstücke zählte. Für zwölf Schillinge konnte man sich ein Pferd kaufen!, dachte sie ehrfürchtig, während der Mann sich abwandte, um ihnen eine mit einem Siegel versehene Pergamentrolle zu überreichen.
»Dies ist der Nachweis, dass Ihr die Gebühr entrichtet habt«, erklärte er etwas freundlicher. »Verliert sie nicht. Damit könnt Ihr Euch morgen beim Zunftvorsteher melden, der wird Euch alle weiteren Auskünfte geben.« Damit entließ er sie und wandte sich dem hinter ihnen wartenden Ritter zu, der sich mürrisch über die lange Wartezeit beklagte.
»Wir haben es geschafft«, hauchte Anabel, als sie orientierungslos die breiten Gassen entlangzuckelten und sich neugierig umblickten. »Dem Herrn sei Dank!«
Vorbei an prächtigen Wohn- und Geschäftshäusern wanden sie sich durch die trotz der späten Stunde dicht gedrängten Menschen, die alle in eine Richtung strömten. Während Anabel den fremdländischen Dialekt in sich aufsaugte, steuerte Bertram auf einen weitläufigen Platz zu, in dessen Mitte sich das
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