Die Launen des Teufels
beschrieben wurden. Überflutungen, Dürren, Stürme und Krankheiten wie diese wurden seit Urzeiten als Strafe für Gottlosigkeit und Arroganz angesehen, welche die Menschheit selbst auf sich gezogen hatte. Je mehr er sich in die Geschichten vertiefte, desto mehr zweifelte er allerdings daran, dass es sich bei dieser Plage um Gottes Willen handelte. Denn wie war es ansonsten zu erklären, dass die Ungläubigen des Ostens und der Kosmos der Christenheit gleichermaßen davon betroffen waren?
Vorsichtig platzierte er den Lesestein auf einer farbenfrohen Illustration, welche die Plagen darstellte, die einst die Ägypter heimgesucht hatten. Handelte es sich bei den beschriebenen Symptomen um dieselben, gegen welche die Ärzte und Heiler so vollkommen machtlos waren? Wenn ja, wie war es möglich, dass in all den Jahrtausenden kein Heilmittel gefunden worden war? Seine Hand stockte. Deutlich zeichneten sich unter den Achseln eines am Boden liegenden Ägypters die typischen, hühnereigroßen Beulen ab, die auch Prudenz schon oft gesehen hatte. Es gab keinen Zweifel! Waren die Menschen so gottlos geworden, dass der Herr sie mit der gleichen Härte bestrafte wie mörderische Heiden? Der Gedanke ließ ihn erzittern. Mit unsicherer Hand führte er den gelblichen Stein ans Ende der Schriftrolle, wo die Krankheit in vielen ausführlichen Einzelheiten beschrieben wurde.
Als nach beinahe einstündigem Studium der Aufzeichnungen seine Augen anfingen zu brennen, gab er schließlich widerstrebend auf und trat an eines der Fenster, um sich eine Pause zu genehmigen. Der Himmel verdunkelte sich bereits mit den aus Süden ins Land ziehenden Schleierwolken, die vermuten ließen, dass sich bald eine neue Föhnfront aufbauen würde. Hinter der hohen Mauer der Abtei gähnte die zum Teil von ihrer Abdeckung befreite Münstergrube, in der reges Treiben herrschte. Ob es den Bürgern Ulms gelingen würde, mit der Errichtung dieses himmelstürmenden Bauwerkes den göttlichen Zorn zu beschwichtigen?, fragte der Barfüßer sich skeptisch, während er beobachtete, wie eine Handvoll Zimmerleute Balken schleppten und die ersten Schalungsteile mit langen Nägeln verbanden. Sobald der Boden weit genug aufgetaut war, würde der Bürgermeister feierlich den Grundstein legen und das Mauern der Fundamente würde beginnen. Bereits zehn Jahre später sollte das Hauptschiff fertiggestellt sein, und obschon Prudenz insgeheim wünschte, bei der Einweihung der Kirche zugegen sein zu können, wusste er, dass er diese vermutlich nicht mehr erleben würde.
Abermals wanderte seine Hand zu seinem Kopf und grub sich in das drahtige Haar. Ob sein Nachfolger den Versuchungen der Macht ebenso erliegen würde wie Henricus? Da er seinem erkrankten Vorgänger vor dessen Ableben die Beichte abgenommen hatte, wusste Prudenz von den Bestrebungen, die Kontrolle über den Bau zurückzugewinnen. Halb im Fieberwahn hatte Henricus ihn angefleht, einen dahingehenden Vorschlag im Rat der Stadt einzubringen, da ihn ansonsten der Glockengießer übertölpelt hätte. Erst im Nachhinein hatte Prudenz in Erfahrung gebracht, dass besagter Glockengießer hingerichtet worden war, und er hatte ungläubig den Kopf geschüttelt.
Während diese Erinnerungen in ihm aufstiegen, ließ er den Blick weiterwandern.
Etwas links von den lautstark diskutierenden Zimmerleuten schossen soeben drei Straßenköter auf einen vollkommen nackten Leichnam zu, um die Zähne in dessen Arme und Beine zu schlagen und an ihm zu zerren. Die Wut der Hunde ließ den achtlos auf die Straße geworfenen Toten hin- und herzucken, sodass es wirkte, als wolle er sich gegen den Angriff wehren. Immer häufiger kam es vor, dass die Verstorbenen wie Schmutz aus ihren Häusern gekehrt wurden, bevor diese von Fremden bezogen wurden, die auch das Hab und Gut der ehemaligen Besitzer beanspruchten. Wenn das Sterben mit unverminderter Geschwindigkeit fortschritt, bestand die Gefahr, dass ganze Geschlechter ausstarben und das Gleichgewicht der Macht auf lange Sicht erheblich gestört würde. Patrizier wurden durch einfache Bürger ersetzt, denen Bauern in die Stadt folgten. Wenn die Gerüchte stimmten, drohte eine Hungersnot, da die wenigen überlebenden Bauern nicht ausreichten, um die Felder zu bestellen und die Ernten einzubringen. Viele von ihnen nutzten die Gelegenheit, das Gebiet ihrer Herren zu fliehen und andernorts ihr Glück als freie Arbeiter zu versuchen. Auch die Klarissen in Söflingen hatten sich bereits über den
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