Die leichten Schritte des Wahnsinns
Besinnung kommen und dann meine Eltern beruhigen, und Großmutter.«
»Heb dir diese Förmlichkeiten für deine Japaner auf. Komm, ich gebe dir ein sauberes Handtuch.«
»Lena, ich glaube nicht, daß er es selber getan hat«, sagte Olga leise, als sie vor dem Badezimmer stand. »Das alles ist mehr
als seltsam. Ihr Telefon hat den ganzen Tag nicht funktioniert. Ich habe mich beim Amt erkundigt, die Leitungen waren alle
in Ordnung. Irgendwas war am Apparat kaputt, der Nachbar hat es heute morgen in einer Minute repariert. Den Krankenwagen und
die Polizei hat seine Frau vom Apparat der Nachbarn aus alarmiert, um fünf Uhr morgens. Diese Nachbarn haben auch mich angerufen.
Ich bin hingefahren, da hatte man Mitja schon weggebracht. Weißt du, seine Frau war in dieser Nacht – also, sie war vollgepumpt
mit Drogen. Und Mitja, so hat man mir gesagt, ebenfalls. Es hieß, ein klarer Fall von Selbstmord aufgrund einer narkotischen
Psychose. In der Wohnung sind Ampullen und Spritzen gefunden worden, und an seinem Arm waren Einstiche. Deshalb hat die Polizei
keine besonderen Anstrengungen unternommen. Mir wurde gesagt – verehrte Olga Michailowna, Ihr Herr Bruder war drogensüchtig.
Und seine Frau ebenso. Alles klar!«
»Mitja war nicht drogenabhängig«, sagte Lena, »er hat nicht einmal getrunken. Und Katja …«
»Sie hat schon seit anderthalb Jahren gespritzt. Aber Mitja nicht. Niemals.«
»Du hast ihn im Leichenschauhaus gesehen?«
»Nein. Ich konnte nicht, ich hatte schreckliche Angst, daß ich es nicht ertrage und womöglich in Ohnmacht falle.Er war schon im Kühlraum. Für eine Obduktion muß man sich in eine Warteliste eintragen – es wären zu viele Leichen, heißt
es. Wenn ich einen Antrag bei der Staatsanwaltschaft stelle – dann muß er da liegenbleiben, bis er an die Reihe kommt.«
»Und was willst du tun?«
»Ich weiß nicht. Der Antrag, so heißt es, hat nicht viel Sinn. Die Sache wird irgendeinem unbedarften Mädel übergeben, das
bei der Moskauer Staatsanwaltschaft eigentlich für alle Aufenthaltsgenehmigungen zuständig ist, es gibt nämlich zuwenig Untersuchungsführer.
Und so ein Mädchen wird nicht lange nachforschen, ist ja eine klare Sache, Selbstmord. Es gibt so viele unaufgeklärte Morde,
und das hier ist nur ein Drogensüchtiger.«
Während Olga duschte und sich herrichtete, stand Lena mit der surrenden Kaffeemühle in der Hand am Fenster und dachte an Mitja
Sinizyn. Worüber hatten sie neulich gesprochen? Immerhin war er ganze zwei Stunden hier gewesen. Er hatte von seinen fünf
neuen Liedern erzählt und ihr sogar eine Kassette dagelassen. Sie mußte sie suchen und sich anhören. Bis jetzt hatte sie noch
keine Zeit dafür gefunden.
Und von diesem Superproduzenten hatte er gesprochen, der da an seinem Horizont aufgetaucht war. Seinen Namen nannte Mitja
nicht, er sagte nur: »Eine sagenhafte Berühmtheit, du wirst es nicht glauben! Und überhaupt, ich will’s nicht beschreien!«
Nachdem er mit Appetit gegessen hatte, saßen sie noch lange zusammen und redeten. Es ging um ihre Studentenzeit.
Mitja hatte am Institut für Kulturwissenschaften studiert, Regie für Volkstheater. Ein seltsames Fach, besonders heutzutage.
Er hatte aber nie in dieser Sparte gearbeitet, sondern seine Lieder geschrieben und meist in kleinem Kreis vorgetragen. Ende
der achtziger Jahre konnte er sogar ein paar Konzerte in Klubs geben, und immer wieder warüber eine Schallplatte verhandelt worden, später dann über eine CD und einen Videoclip. Diese Verhandlungen kamen nie zu einem
Abschluß, aber Mitja verlor den Mut nicht. Er glaubte daran, daß seine Lieder gut waren, nur eben keine Popmusik.
In der letzten Zeit hatte er als Gitarrenlehrer an einem kleinen Kindertheater gearbeitet. Das Gehalt war erbärmlich, aber
die Kinder liebten ihn, und das war ihm wichtig – eigene Kinder konnten Katja und er nicht bekommen, obwohl sie sehr gern
welche gehabt hätten.
Angenommen, Mitja war tatsächlich auf so ausgeklügelte Weise ermordet worden, dann tauchte sogleich die Frage auf: Weshalb?
Wem konnte ein Mensch im Wege sein, der Kindern klassische Gitarre beibrachte und Lieder schrieb?
Draußen fiel feuchter Schnee. Lena blickte aus dem Fenster und registrierte automatisch, daß Olga ihren kleinen grauen VW
nicht eben glücklich auf dem Hof geparkt hatte – er stand in einer Schneewehe, aus der sie nur mit Mühe herauskommen würde.
Und ebenso automatisch streifte ihr
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