Die letzte Lagune
Toresschluss aus dem
Fenster zu lehnen. Die Lombardei war 1859 verlorengegangen, und der
Anschluss des Veneto an das neugegründete italienische
Königreich schien ohnehin nur noch eine Frage der Zeit. Also
beschränkten sich die italienischen Patrioten darauf,
gelegentlich die Trikolore am Revers zu tragen, im Café
Turiner Zeitungen zu lesen und den österreichischen
Militärkapellen, die auf der Piazza spielten, den Beifall zu
verweigern -kein Grund für Spaur, Maßnahmen zu
ergreifen.
Ohnehin wäre der
Baron nicht der Mann gewesen, eine ernsthafte Revolution kraftvoll
niederzuschlagen. Spaur hatte sein Büro in der venezianischen
Questura Mitte der fünfziger Jahre bezogen, und die zehn
Jahre, die er in der Serenissima verbracht hatte, waren nicht
spurlos an ihm vorübergegangen. Zwar sprach er immer noch das
näselnde Deutsch der kaiserlichen Beamten, aber sein Deutsch
war inzwischen durchsetzt mit Redewendungen in reinstem Veneziano.
Natürlich war daran auch seine Heirat mit einer ehemaligen
Soubrette aus dem Malibran-Theater nicht unbeteiligt. Die Hochzeit,
in kleinem Kreis vollzogen, war kein großes
gesellschaftliches Ereignis gewesen, schon deshalb nicht, weil die
hohen kaiserlichen Offiziere signalisiert hatten, dass sie einer
Einladung nicht folgen würden -und auch, weil der Bruder der
jungen Braut bereits zweimal wegen kaiserfeindlicher Propaganda
verhaftet worden war. Aber es hatte andererseits keine Anzeichen
dafür gegeben, dass der Allerhöchste in Wien, der sich
gerne in alles Mögliche einmischte, diese Heirat eines seiner
Würdenträger missbilligte.
Auch in der Familie
des Polizeipräsidenten hatte sich kein Widerstand gegen eine
Ehe geregt, die nach herkömmlichen Begriffen nur als
Mesalliance gelten konnte. Das lag auch daran, dass der Lauf der
Geschichte die einst weitverzweigte Familie der Spaurs bis auf
unbedeutende Restbestände dezimiert hatte. Zur Heirat war
lediglich ein unverheirateter Bruder angereist, der immer noch im
Stammsitz der Spaurs residierte, ein baufälliges Gemäuer
in der Nähe von Meran. Mit den Spaurs war nicht mehr viel los,
was wiederum, dachte Tron, nicht schlecht zur morosen Verfassung
des Staatswesens passte, dem der Baron diente. Kürzlich hatten
die Spaurs ein geräumiges Haus am Rio della Sensa bezogen, und
es sah nicht so aus, als wollten sie nach Norden ziehen, wenn die
Tage der österreichischen Herrschaft über das Veneto zu
Ende gingen.
Alles dies ging Tron
durch den Kopf, als er Spaur von seinem Besuch im
Militärarchiv berichtete. Das Fenster stand auf, und da es
wieder angefangen hatte zu schneien, wehten ein paar Schneeflocken
auf den Boden und schmolzen dort zu kleinen
Pfützen.
«Hmm»,
machte Spaur, nachdem er Tron schweigend zugehört hatte.
«Also ist Lodron ein ehemaliger Rittmeister der Linzer
Ulanen. Und Petrelli war einer seiner Unteroffiziere. Das hört
sich interessant an.»
Aber Spaur schien an
einer bisher unbekannten Verbindung zwischen dem Hofrat und
Petrelli nicht sonderlich interessiert zu sein. Tron hatte fast den
Eindruck, als wären ihm nähere Auskünfte eher
unwillkommen.
«Als Petrelli im
Herbst 1859 aus dem Dienst ausschied», fuhr er fort,
«hat Lodron ihm ein Zeugnis ausgestellt, das vor Superlativen
nur so strotzt. Es gab in den Akten auch Hinweise auf einen
erfolgreichen Sondereinsatz, den Petrelli unter Lodrons Kommando
hinter den feindlichen Linien durchgeführt
hat.»
Spaur hatte schweigend
zugehört. Jetzt warf er einen unfreundlichen Blick über
den Schreibtisch. «Ich weiß nicht, was Ihnen durch den
Kopf geht, Commissario», sagte er mürrisch. «Ich
will es auch nicht wissen. Der Kontakt zwischen Lodron und Petrelli
war jedenfalls rein dienstlicher Natur.»
«Aber warum
wollte Lodron verhindern, dass seine Verbindung zu Petrelli bekannt
wird?»
Spaur zuckte die
Achseln. «Vermutlich wollte der Hofrat uns nur davor
bewahren, eine falsche Spur zu verfolgen.»
«Das wäre
sehr verantwortungsvoll von Hofrat Lodron», sagte
Tron.
Aus Spaurs Miene war
ersichtlich, dass ihm Trons Ironie entgangen war.
«Außerdem», fuhr er fort, «habe ich mich
auf meine Menschenkenntnis immer verlassen
können.»
Tron hob
überrascht das Kinn. «Sie kennen den
Hofrat?»
Spaur nickte.
«Wir haben uns auf einem Empfang des Stadtkommandanten
kennengelernt. Er war heute Vormittag in der Questura. Dass er mit
kaiserlichen Sondervollmachten reist, erklärt
einiges.»
«Was
erklärt es denn?»
«Dass er sofort
etwas unternehmen
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