Zwei Wochen danach (German Edition)
Heike öffnet die Augen. Sie hört die Stimmen ihrer beiden Söhne und die von Thomas und blickt sich im Wohnzimmer um. Sie sitzen auf dem Fußboden. Aus den alten Holzbausteinen haben sie ein Haus gebaut. Heikes Vater ist auch dabei.
Thomas wirft die restlichen Bausteine einen nach dem anderen in die rote Kiste. Dann dreht er sich zum Fenster um.
Er hat sie und die Kinder vom Flugplatz nach Hause gebracht. Dann muss er ihre Eltern angerufen haben. Heike ist froh, dass er dabeigewesen ist.
Sie fragt sich, wie lange sie schon hier liegt.
Der Arzt fällt ihr ein. Er hat ihr ein Medikament gegeben.
Sie hat ihn kaum wahrgenommen, nur die Kinder im Kopf gehabt, als sie wieder zu sich gekommen ist. Marcus und Pit.
Und als sie gesehen hat, dass Thomas bei ihnen war, hat sie sich der Müdigkeit hingegeben.
Doch jetzt erinnert sie sich an das, was geschehen ist. Sie hält die Hände über die Augen, als könnte sie die Bilder mit ihnen verdecken, doch die Bilder sind in ihr. Sie formen sich erneut zusammen und Heike schluchzt auf.
Dann hört sie Pit. Sein Weinen übertönt ihres und Heike dreht sich um. Er hat bemerkt, dass sie aufgewacht ist und will zu ihr, doch ihr Vater nimmt die Jungen an der Hand und geht mit ihnen aus dem Zimmer. Pit blickt immer wieder zu ihr zurück. Sein Gesichtsausdruck ist leer. Als wäre es nicht Pit.
Im Flur bleibt ihr Vater stehen und Pits Weinen wird leiser, als ihm Heikes Mutter aus der Küche etwas zum Essen reicht.
Ihr Vater deutet mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer, dann verschwindet er mit den Kindern aus ihrem Blickfeld.
Ihre Mutter kommt aus der Küche und setzt sich zu ihr. Zärtlich streicht sie ihr über die Stirn. „Wie geht’s?“, fragt sie mit belegter Stimme.
Heike antwortet nicht. Sie sieht die Tränen in den Augen ihrer Mutter und spürt, was diese Tränen bedeuten. Sebastian ist tot. Seit heute Nachmittag haben ihre Söhne keinen Vater und sie keinen Mann mehr. Jetzt ist sie allein. Der Schmerz verzieht ihr Gesicht. Sie dreht sich um und starrt an die Rückenlehne der Couch. Liegt einfach nur da und starrt. Hört nichts mehr und sieht nur das Muster vor ihren Augen verschwimmen und starrt.
***
Früher oder später musste es so kommen. Ich habe es immer geahnt. Ich sehe Ralph in diesem Bett liegen, als wäre nichts geschehen. Er sieht so unversehrt aus. Als würde er gleich aufwachen und etwas zu mir sagen. Aber er wacht nicht auf. Er liegt schon seit Stunden so. Sie haben ihn in einen künstlichen Schlaf versetzt, weil eben doch etwas geschehen ist! Soviel, dass sein Leben an einem seidenen Faden hängt und von seinem Vater bewacht werden will!
Ich muss weinen. Schnell schaue ich auf meine Finger, die das Handy halten. Seit Raphael vor zwei Stunden die SMS geschrieben hat, dass er auf dem Weg zur Klinik ist, habe ich es nicht aus der Hand gelegt. Wenigstens etwas, an was ich mich festhalten kann.
Meine Tränen tropfen auf das Handy und ich denke an Susanne und Raphael, die draußen sitzen. Ich nehme ein zerrissenes Taschentuch aus meiner Jacke. In den ganzen Stunden habe ich es nicht fertiggebracht, sie auszuziehen.
Dann sehe ich auf die Uhr. Fünf, denke ich. Fünf Stunden sind wir schon hier. Wir müssen nach Hause. Ich schnäuze mir die Nase und versuche meinen Schwiegereltern zu erklären, dass ich mit den Kindern heimgehen werde.
Joachim sieht mich an. Keine Regung in seinem Gesicht. Doch er kann das böse Funkeln hinter seinen Tränen nicht verstecken.
„Ich komme mit“, sagt Renate zu mir, als hätte sie seit Stunden darauf gewartet, von hier wegzukommen.
Von diesem Ort, an dem man dem Tod so nahe ist.
Sie schaut ihren Mann an. Keine Antwort.
„Wir müssen abwarten. Wir können jetzt sowieso nichts für ihn tun“, rechtfertigt sie sich.
„Gute Nacht!“, ist alles, was Joachim sagt, als Renate aufsteht und die Jacke über ihre Schultern wirft.
***
Kristel liegt wach im Bett. Sie hört Karl-Ludwig neben sich atmen und das leise Röcheln ihrer Enkel.
Es ist gut, dass sie Marcus und Pit mit hierhergenommen haben. Sie hätten sie unmöglich bei Heike lassen können. Aber mehr und mehr begreift Kristel die Situation. Sie ist nicht so stark, wie sie noch heute Nachmittag geglaubt hat. Und lange nicht so tapfer wie Ludwig.
Nie im Leben wäre sie in der Lage gewesen, nach München zu fahren, nachdem Thomas angerufen hat. Die ganze Zeit im Auto hat sie geheult. Geheult, bis Ludwig vor dem Haus gehalten hatte und die Kinder
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