Die Liebe atmen lassen
Leben ständig vonBegriffen leiten lässt, etwa von seinem Begriff der Freiheit (»an meine Freiheit lasse ich nicht rühren«). Unverzichtbar sind Begriffe auch als Instrumente der Kommunikation, wenngleich sie häufig Missverständnisse hervorrufen, denn Andere haben andere Begriffe, die sich tückischerweise in denselben Worten verbergen. Was die Liebe angeht, verfügen keine zwei Menschen über denselben Begriff, setzen allerdings genau das oft voraus und richten Erwartungen aneinander, die dem je Anderen aufgrund seines Begriffs fremd sein müssen. Nichts an einem Begriff versteht sich von selbst, daher wäre immer neu danach zu fragen, auf welche Erfahrungen, Sehnsüchte, Befürchtungen, Vorstellungen er zurückgeht, ob er überhaupt noch einen realen Gehalt hat oder schon zum Selbstzweck geworden ist. Äußerstenfalls wäre er zu verändern, um den Erfahrungen besser zu entsprechen, anderen Vorstellungen Ausdruck zu verleihen und Möglichkeiten zu neuen Erfahrungen zu eröffnen: Wie kann die Liebe noch anders begriffen werden, um besser mit ihr zurechtzukommen?
Im Umgang mit dem Wirklichen, auf der Suche nach dem Möglichen gelangt die Philosophie auf dem Weg zur Weisheit schließlich an den Punkt, von dem aus es möglich ist, das gesamte Phänomen im Zusammenhang zu sehen , also synoptisch vorzugehen: Die Philosophie öffnet den Blick fürs Ganze und kann für einen Moment die Verengung der Wahrnehmung wieder auflösen, die sich in der alltäglichen Bewusstlosigkeit des Lebens unweigerlich einstellt. Für die Liebe erfordert dies eine Erweiterung des Blicks auf sämtliche Arten von Liebe, denn das Phänomen reicht über die Liebe der Liebenden weit hinaus und umfasst auch die familiäre Liebe zwischen Eltern und Kindern, zwischen Kindern ihrerseits, zwischen Großeltern und Enkeln; darüber hinaus die Liebe zu Freunden imengeren und weiteren Sinne, zu Kollegen und zu »Nächsten« allgemein, auch zu Feinden; schließlich die Liebe zu Tieren und zu aller Natur, zu Dingen, materiellen wie ideellen, zum Leben und zur Welt überhaupt; und von Bedeutung kann für Menschen, wenngleich nicht für jeden, auch die Liebe zu einer Dimension der Transzendenz, zum Kosmos, zu Gott sein. Derjenige, der auch nur ansatzweise das gesamte Spektrum für sich erschließt, muss nie an Liebe Mangel leiden und sich nicht vom Gelingen oder Misslingen einer einzigen Beziehung abhängig fühlen.
Bei aller Lust am Erfassen, Betrachten und Begreifen eines Phänomens wie der Liebe im Detail und im Ganzen kommt es auf dem Weg zur Weisheit aber zuletzt darauf an, für ein überlegtes Verhalten im Umgang damit nach Gründen zu suchen und sie abzuwägen . Bei diesem argumentativen Vorgehen kann die Philosophie behilflich sein, indem sie zur Poristik wird, zur Suche nach dem richtigen Weg ( poros im Griechischen): Sie hilft, all das zu bedenken, was für und gegen eine Wahl spricht, unter Wahrung der Optionalität , ohne Normativität , die den Einzelnen zu sehr festlegen würde. Der jeweilige Mensch trifft selbst seine Wahl, sinnvollerweise jedoch mit Gründen, die er im Denken und Fühlen ausreichend abgewogen hat und für überzeugend hält: Er selbst muss mit seinem gesamten Leben auch für die Konsequenzen einstehen. Die Gründe kann er allein abwägen, klugerweise aber mit Anderen , um mehr als nur die eigenen Gründe zu berücksichtigen und eine größere Gewissheit zu gewinnen. Sehr viel hängt davon ab, eine Wahl möglichst gut zu begründen, denn nur das, was gut begründet ist, kann auch durch vielerlei Schwierigkeiten des Lebens und Liebens hindurch Bestand haben. Als gute Gründe kommen dabei nicht nur Überlegungen , sondern auch Gefühle in Betracht,und nicht nur allgemeine Gründe sind von Belang, die etwa für und gegen Beziehungen und insbesondere die Beziehung der Liebe sprechen, sondern auch besondere Gründe für und gegen diese Beziehung.
Und wozu das alles? Wenn Menschen lieben, kann offenkundig eine Fülle von Sinn , von Zusammenhängen entstehen, auf verschiedenen Ebenen des Menschseins; sogar die Negation der Liebe verweist noch auf dieses Sinnpotenzial: Die Entbehrung , aus der heraus sie ersehnt wird, der Hass , in dem sie verflucht wird, die Enttäuschung , die dazu führt, nichts mehr von ihr wissen zu wollen. »Gebt die Liebe auf«, forderte Kasimir Malewitsch in vorrevolutionärer Zeit und sah darin die Voraussetzung zu einer neuen Kultur. Sollte aber eine kulturelle und, als Voraussetzung dafür,
Weitere Kostenlose Bücher