Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Mutlosigkeit gedacht, daß diese Galerie der zufälligen Bildnisse den Keim der künftigen Stadt in sich trug, die, von jenen unsicheren Kindern regiert und verdorben, nicht einmal mehr die Asche seines Ruhms bewahren würde. Auf dem Schreibtisch, neben einem Topf mit ein paar Kapitänspfeifen, stand das Schachbrett mit einer unbeendeten Partie. Doktor Juvenal Urbino konnte trotz seiner Eile und seiner düsteren Stimmung nicht der Versuchung widerstehen, die Partie zu studieren. Er wußte, daß es die der vergangenen Nacht war, da Jeremiah de Saint-Amour an jedem Abend der Woche und mindestens mit drei verschiedenen Gegnern spielte, doch stets führte er das Spiel zu Ende und legte danach das Brett und die Steine in ihre Schachtel und die Schachtel in eine Schublade des Schreibtischs. Der Arzt wußte, daß er immer mit Weiß spielte, und es war offensichtlich, daß er dieses Mal nach vier weiteren Zügen unrettbar geschlagen gewesen wäre. »Hätte es sich um ein Verbrechen gehandelt, wäre das hier eine gute Fährte«, sagte er sich. »Ich kenne nur einen Mann, der fähig ist, einen solch meisterhaften Hinterhalt zu legen.« Er hätte nicht weiterleben mögen, ohne später in Erfahrung bringen zu können, warum dieser unbezwingbare Kämpfer, der stets bereit war, sich bis zum letzten Blutstropfen zu schlagen, bei der Endschlacht seines Lebens nicht bis zum Schluß durchgehalten hatte. Um sechs Uhr morgens, auf seiner letzten Runde, hatte der Nachtwächter das Schild gesehen, das an die Eingangstür geheftet war: Treten Sie ein, ohne zu läuten, und verständigen Sie die Polizei. Kurz darauf kam der Kommissar mit dem Assistenzarzt, und beide durchsuchten das Haus nach irgendeinem Hinweis, der gegen den unverwechselbaren Hauch der bitteren Mandeln sprach. In den wenigen Minuten aber, die für die Analyse der unvollendeten Partie nötig waren, entdeckte der Kommissar dann einen Umschlag zwischen den Papieren auf dem Schreibtisch, der an Doktor Juvenal Urbino adressiert und mit so viel Siegellack gesichert war, daß man ihn zerfetzen mußte, um den Brief herauszunehmen. Der Arzt zog, um mehr Licht zu haben, den schwarzen Vorhang am Fenster beiseite, warf zuerst einen schnellen Blick auf die elf Bogen, die beidseitig mit gefälligen Schriftzügen beschrieben waren, und begriff, nachdem er den ersten Absatz gelesen hatte, daß er bereits die Kommunion verpaßt hatte. Er las atemlos, blätterte mehrere Seiten zurück, um den verlorenen Faden wiederzufinden, und schien, als er fertig war, nach einer langen Zeit von weither zurückzukehren. Seine Niedergeschlagenheit war sichtbar, obwohl er sie zu verbergen suchte: Seine Lippen hatten die gleiche bläuliche Färbung wie die Leiche angenommen, und er konnte nicht das Zittern seiner Hände verhindern, als er den Brief wieder zusammenfaltete und in der Westentasche verwahrte. Dann erinnerte er sich des Kommissars und des jungen Arztes und lächelte ihnen aus den Nebeln seines Trübsinns zu. »Nichts Besonderes«, sagte er. »Es sind seine letzten Verfügungen.« Das war die halbe Wahrheit, aber sie glaubten sie ganz, als er sie anwies, eine lose Fliese am Boden hochzuheben. Dort fanden sie ein abgenutztes Kontobuch, in dem die Zahlenkombination für die Geldkassette stand. Es war nicht so viel Geld da, wie sie vermutet hatten, doch mehr als genug, um die Kosten des Begräbnisses und andere kleine Verpflichtungen zu begleichen. Doktor Urbino war nun klar, daß er nicht vor dem Evangelium zur Kathedrale kommen würde.
»So weit ich zurückdenken kann, ist dies das dritte Mal, daß ich die Sonntagsmesse versäume«, sagte er. »Aber Gott hat Verständnis.« So blieb er lieber noch einige Minuten länger, um alle Einzelheiten zu klären, obwohl er kaum das Verlangen beherrschen konnte, seiner Frau die Enthüllungen des Briefes mitzuteilen. Er verpflichtete sich, die zahlreichen Flüchtlinge aus der Karibik, die in der Stadt lebten, zu benachrichtigen, damit sie demjenigen die letzte Ehre erweisen konnten, der sich als der achtbarste, aktivste und radikalste unter ihnen hervorgetan hatte, selbst dann noch, als allzu offenkundig wurde, daß er dem Sog der Ernüchterung erlegen war. Er wollte auch den Schachfreunden Bescheid geben, unter ihnen berühmte Akademiker, aber auch namenlose Handwerker, sowie anderen, weniger engen Freunden, die aber möglicherweise an der Beerdigung teilnehmen wollten. Bevor er den Abschiedsbrief kannte, war er entschlossen gewesen, der erste Trauergast zu
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