Die Loge
hatten. Der Bellini war eines der bedeutendsten Gemälde Venedigs, und es wurde als skandalös empfunden, daß der Restaurator sich weigerte, ein paar Minuten mit den fetten amerikanischen Spendern zu plaudern, die diese Restaurierung erst ermöglicht hatten.
Selbst Adriana Zinetti konnte nicht hinter die Planen vordringen. Das führte zu wilden Spekulationen darüber, ob der Restaurator nicht schwul sei, was bei den Freidenkern des Zaccaria-Teams nicht als Verbrechen galt und seine abnehmende Popularität bei einigen Männern vorübergehend wieder steigerte. Erledigt war diese Theorie jedoch, als er eines Abends von einer atemberaubend schönen Frau aus der Kirche abgeholt wurde. Sie hatte hohe Wangenknochen, blasse Haut, grüne Katzenaugen und ein fein modelliertes Kinn. Adriana Zinetti war es, der auffiel, daß die linke Hand der Unbekannten durch Narben stark entstellt war. »Sie ist sein anderes Projekt«, spekulierte Adriana trübselig, als das Paar in der venezianischen Nacht verschwand, »offenbar bevorzugt er Frauen, die nicht ganz heil sind.«
Er nannte sich Mario Delvecchio, doch sein Italienisch, das zwar fließend war, besaß einen schwachen, aber unüberhörbaren Akzent. Den erklärte er damit, daß er im Ausland aufgewachsen sei und immer nur für kurze Zeit in Italien gelebt habe. Jemand hatte gehört, er sei bei dem legendären Umberto Conti in die Lehre gegangen. Ein anderer hatte gehört, Conti habe seine Hände die begabtesten genannt, die er je gesehen hatte.
Der neidische Antonio Politi war der Urheber der nächsten Gerüchtewoge, die über das Zaccaria-Team hinwegflutete. Antonio war die bedächtige Arbeitsweise seines Kollegen ein Dorn im Auge. In weniger Zeit, als der große Mario Delvecchio gebraucht hatte, um das Gesicht der Muttergottes zu restaurieren, hatte Antonio ein halbes Dutzend Gemälde gereinigt und restauriert. Die Tatsache, daß diese alle nur kaum oder gar nicht bedeutend waren, brachte ihn nur noch mehr auf. »Der Meister selbst hat sie an einem einzigen Nachmittag gemalt«, protestierte Antonio bei Tiepolo. »Aber dieser Mann läßt sich einen ganzen Winter Zeit dafür. Rennt immer wieder in die Akademie, um sich die Bellinis anzusehen. Sag ihm, daß er sich ranhalten soll! Sonst sind wir in zehn Jahren noch immer hier!«
Antonio war es auch, der die ziemlich bizarre Geschichte aus Wien ausgrub, die er dem Zaccaria-Team an einem regnerischen Februarabend beim gemeinsamen Abendessen erzählte – passenderweise in der Trattoria alla Madonna. Vor ungefähr zehn Jahren waren im Wiener Stephansdom größere Renovierungs- und Restaurierungsarbeiten vorgenommen worden. Zu dem damaligen Team hatte auch ein Italiener namens Mario gehört.
»Unser Mario?« fragte Adriana mit einem Glas Ripasso in der Hand .
»Natürlich war das unser Mario. Dieselbe hochnäsige Art. Dasselbe Schneckentempo.«
Nach Auskunft von Antonios Informanten war der fragliche Restaurator eines Nachts spurlos verschwunden – in jener Nacht, in der im alten jüdischen Viertel eine Autobombe detoniert war.
»Und was hältst du davon, Antonio?« Adriana starrte ihn durch ihren rubinroten Wein hindurch an. Antonio machte eine Kunstpause, um die dramatische Wirkung seiner Antwort zu verstärken. »Liegt das nicht auf der Hand? Der Mann ist offenbar ein Terrorist. Ich behaupte, daß er zu den Brigate Rosse gehört.«
»Oder vielleicht ist er Osama bin Laden persönlich!«
Das Zaccaria-Team prustete so laut lachend los, daß es fast aufgefordert worden wäre, das Lokal zu verlassen. Antonio Politis Theorien waren damit erledigt, obwohl er selbst nie aufhörte, daran zu glauben. Insgeheim hoffte er, der Restaurator würde es wie in Wien machen und eines Tages spurlos verschwinden. Dann würde er, Antonio, eingreifen, den Bellini selbst fertigstellen und so Berühmtheit erlangen.
Der Restaurator kam an diesem Vormittag gut voran, und die Zeit verging wie im Flug. Als er auf seine Armbanduhr sah, stellte er überrascht fest, daß es schon elf Uhr dreißig war. Er setzte sich an den Rand der Plattform, goß sich Kaffee nach und blickte zu dem Altarbild auf. Dieses Gemälde, das Bellini auf dem Höhepunkt seines Schaffens gemalt hatte, hielten viele Historiker für das erste große Altarbild des sechzehnten Jahrhunderts. Der Restaurator konnte sich nie daran satt sehen. Er bewunderte Bellinis geschickte Verwendung von Licht und Raum, die starke Leitwirkung, die den Blick des Betrachters nach innen und oben
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