Die Loge
lenkte, und die skulpturale Würde der Madonna mit dem Kinde und der sie umgebenden Heiligen. Das Bild strahlte unglaubliche Ruhe aus. Selbst nach einem langen, arbeitsreichen Vormittag stimmte sein Anblick geruhsam und friedlich.
Er zog die Plane beiseite. Die Sonne war herausgekommen und füllte das Kirchenschiff mit Licht, das durch die bunten Glasfenster einfiel. Während er seinen Kaffee austrank, wurde er auf eine Bewegung in der Nähe des Kirchenportals aufmerksam. Dort sah er einen Jungen von ungefähr zehn Jahren mit langen Locken. Seine Schuhe waren von dem Hochwasser draußen durchnäßt. Der Restaurator beobachtete ihn genau. Selbst nach zehn Jahren konnte er keinen kleinen Jungen sehen, ohne an seinen eigenen Sohn zu denken.
Der Junge wandte sich zuerst an Antonio, der ihn mit einer Handbewegung weiterschickte, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Er lief durch das lange Mittelschiff zum Hochaltar, wo er von Adriana freundlicher empfangen wurde. Sie lächelte ihn an, tätschelte seine Wange und zeigte dann auf das Gerüst des Restaurators. Der Junge machte am Fuß der Plattform halt und reichte dem Restaurator wortlos einen Zettel hinauf. Dieser faltete ihn auseinander und las darauf ein paar Worte, die wie die letzte Bitte eines verzweifelten Liebhabers hingekritzelt waren. Der Zettel war nicht unterschrieben, doch die Schrift war ebenso unverkennbar wie Bellinis Pinselstrich.
Ghetto Nuovo. 18 Uhr
Der Restaurator knüllte das kleine Stück Papier zusammen und steckte es ein. Als er wieder aufsah, war das Kind verschwunden.
Um siebzehn Uhr dreißig betrat Francesco Tiepolo die Kirche und schlenderte langsam das Mittelschiff entlang. Mit seinem wallenden Bart, dem weißen Hemd mit den weiten Ärmeln und dem Seidenschal um den Hals sah der riesige Italiener aus, als komme er soeben aus einer Renaissancewerkstatt. Sorgsam kultivierte er dieses Erscheinungsbild.
»Alle mal herhören!« rief er, daß seine Stimme zwischen den Säulen und durch die Apsis hallte. »Schluß für heute! Packt eure Sachen zusammen! In fünf Minuten wird hier abgesperrt.« Er umfaßte das Stahlrohrgerüst mit seiner gewaltigen Pranke und schüttelte es so kräftig, daß die Lampe und die Pinsel des Restaurators klapperten. »Das gilt auch für dich, Mario. Gib deiner Lady einen Gutenachtkuß. Sie kann's ein paar Stunden ohne dich aushalten. Sie ist fünfhundert Jahre lang allein zurechtgekommen.«
Gewissenhaft reinigte der Restaurator seine Pinsel und die Palette und verstaute Pigmente und Lösungsmittel in einem gefirnißten länglichen Holzkasten. Dann knipste er die Lampe aus und sprang katzengleich vom Gerüst. Wie immer verließ er die Kirche, ohne ein Wort mit den anderen gewechselt zu haben.
Mit dem Kasten unter einem Arm ging er quer über den Campo San Zaccaria davon. Elegant und scheinbar mühelos überquerte er den Platz, aber seine kaum imponierende Größe und sein schlanker Körperbau waren daran schuld, daß er leicht zu übersehen war. Das graumelierte schwarze Haar trug er ziemlich kurz. Sein kantiges Gesicht mit dem tief gespaltenen Kinn und den vollen Lippen wirkte wie aus Holz geschnitzt. Den stärksten Eindruck machten seine Augen, die fast mandelförmig und schockierend smaragdgrün waren. Obwohl die Arbeit seine Augen anstrengte – und er vor kurzem seinen einundfünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte –, kam er weiterhin ohne Brille aus.
Er ging durch einen Torbogen und gelangte auf die Mole Riva degli Schiavoni, einen breiten Kai mit Blick auf den Canale di San Marco. Trotz des kalten Märzwetters waren viele Touristen unterwegs. Der Restaurator konnte ungefähr ein halbes Dutzend Sprachen unterscheiden, von denen er die meisten selbst beherrschte. Ein hebräischer Satzfetzen drang an sein Ohr. Er verhallte rasch wieder wie Musik im Wind, weckte jedoch in dem Restaurator den unbezähmbaren Wunsch, den Klang seines wahren Namens zu hören.
An der Anlegestelle wartete ein Vaporetto der Linie 82. An Bord fand er einen Platz an der Reling, von wo aus er alle ein- und aussteigenden Fahrgäste sehen konnte. Er holte den Zettel aus der Tasche und las die Nachricht ein letztes Mal. Dann ließ er ihn über Bord fallen und beobachtete, wie er im stillen Wasser der Lagune davontrieb.
Im fünfzehnten Jahrhundert wurde ein sumpfiges Stück Land im Stadtviertel Cannaregio als Bauplatz für eine neue Messinggießerei, im venezianischen Dialekt geto genannt, ausgewiesen. Die Gießerei wurde nie errichtet.
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