Die Loge
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M ÜNCHEN
Das Wohnhaus Adalbertstraße 68 gehörte zu den wenigen im Stadtteil Schwabing, das Münchens laute und wachsende akademische Elite noch nicht in Beschlag genommen hatte. Das zwischen zwei rote Klinkergebäude mit dem Charme der Vorkriegsjahre eingeklemmte Haus 68 wirkte eher wie ihre häßliche jüngere Stiefschwester. Seine Fassade trug rissigen beigen Verputz, seine Form war gedrungen und unelegant. Das führte dazu, daß seine Bewohner eine lockere Gemeinschaft aus Studenten, Künstlern, Anarchisten und unbußfertigen Punkrockern waren, die alle unter der Fuchtel der autoritären Hausmeisterin Frau Ratzinger standen, die angeblich schon in dem ursprünglichen Haus Nummer 68 gewohnt hatte, als es von einer alliierten Bombe dem Erdboden gleichgemacht worden war. Aktivisten aus der Nachbarschaft verhöhnten das Gebäude als Schandfleck, der unbedingt saniert werden müsse. Seine Verteidiger sagten, es verkörpere genau jene künstlerische Arroganz, die Schwabing einst zum Montmartre Deutschlands gemacht habe – das Schwabing von Hesse, Mann und Lenin. Und von Adolf Hitler, wäre der hinter einem Fenster im ersten Stock arbeitende Professor vielleicht versucht gewesen hinzuzufügen. Aber in diesem alten Viertel wollten nur wenige an die Tatsache erinnert werden, daß auch der junge österreichische Sonderling sich einst von diesen stillen, von Bäumen gesäumten Straßen hatte inspirieren lassen.
Für seine Studenten und Kollegen war er Herr Professordoktor Stern. Freunde aus der Nachbarschaft kannten ihn einfach als Benjamin; für gelegentliche Besucher aus der Heimat war er Binyamin. In einem anonymen Komplex aus Stein und Glas im Norden von Tel Aviv, in dem trotz seiner Bitten, sie endlich zu verbrennen, noch immer eine Akte über seine Großtaten in jüngeren Jahren lagerte, würde er stets als Beni, als der jüngste von Ari Schamrons ungeratenen Söhnen, bekannt sein. Offiziell gehörte Benjamin Stern weiterhin der Fakultät der Hebräischen Universität in Jerusalem an, auch wenn er seit vier Jahren als Gastprofessor für Europäische Studien an der angesehenen Münchner Ludwig-Maximilians-Universität lehrte. Er war sozusagen zu einer Dauerleihgabe geworden, was Professor Stern nur recht war. Durch eine Ironie der Geschichte lebte man als Jude heutzutage in Deutschland behaglicher als in Jerusalem oder Tel Aviv.
Die Tatsache, daß seine Mutter die Schrecken des Rigaer Ghettos überlebt hatte, verlieh Professor Stern in den Augen der übrigen Bewohner des Hauses Nummer 68 ein etwas zweifelhaftes Ansehen. Er war eine Kuriosität. Er war ihr wandelndes Gewissen. Sie überhäuften ihn mit Vorwürfen wegen der Notlage der Palästinenser. Sie stellten ihm behutsam Fragen, die sie ihren Eltern und Großeltern nicht zu stellen wagten. Er war ihr Lebensberater und ein Weiser, dem sie vertrauten. Sie kamen zu ihm, um sich bei Studienproblemen beraten zu lassen. Sie schütteten ihm ihr Herz aus, wenn eine Liebesbeziehung in die Brüche gegangen war. Sie plünderten seinen Kühlschrank, wenn sie hungrig waren, und sie plünderten seine Geldbörse, wenn sie abgebrannt waren. Vor allem aber fungierte er bei allen Auseinandersetzungen mit der gefürchteten Frau Ratzinger als Sprecher der Mieter. Professor Stern war der einzige Bewohner des Hauses, der sich nicht vor ihr fürchtete. Zwischen den beiden schien ein besonderes Verhältnis zu bestehen. Eine Art Verwandtschaft. »Das ist das Stockholm-Syndrom«, behauptete der Psychologiestudent Alex, der im obersten Stock wohnte: »Häftling und Gefängniswärter. Herr und Diener.« Aber dahinter steckte mehr. Der Professor und die Alte schienen dieselbe Sprache zu sprechen.
Im vergangenen Jahr, als sein Buch über die Wannsee-Konferenz ein internationaler Bestseller geworden war, hatte Professor Stern mit der Idee geliebäugelt, in ein eleganteres Haus umzuziehen – vielleicht mit einbruchsicheren Wohnungstüren und Blick auf den Englischen Garten. In ein Haus, dessen übrige Bewohner sein Apartment nicht als bloße Erweiterung ihres eigenen betrachten würden. Das hatte bei den anderen Panik ausgelöst. Eines Abends erschienen sie en masse bei ihm und baten ihn, er solle doch bleiben. Versprechungen wurden gemacht. Sie würden kein Essen mehr aus seinem Kühlschrank klauen und ihn auch nicht um Kleindarlehen bitten, wenn sie genau wußten, daß keine Hoffnung auf Rückzahlung bestand. Sie würden mehr Rücksicht auf sein Bedürfnis nach Ruhe nehmen. Sie
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