Die Medica von Bologna / Roman
gelegt hatte. Es stellte eine Bündelung und Aufbereitung aus dreißigjähriger medizinischer Tätigkeit dar. Die Technik der
Ars reparatoria
mit ihren sechs Akten war bis ins Kleinste beschrieben und mit vielen Abbildungen veranschaulicht worden. Ich studierte Kapitel für Kapitel, und vieles von dem, was ich las, kam mir sehr bekannt vor. Doch genau wie in seinem Werk
De Instrumentis pro Arte reparatoria
hatte Tagliacozzi es auch hier versäumt, mich und meinen Beitrag zur Verbesserung von Operationen und Operationstechniken zu erwähnen. Dies erschien mir umso auffälliger, als er durchaus andere Chirurgen und Ärzte genannt hatte. Neben den Erkenntnissen der alten Meisterärzte wurden auch die Verdienste der zeitgenössischen Heilkundigen erwähnt. Ich fand die Namen von Alessandro Benedetti, Andreas Vesalius, Ambroise Paré, Etienne Gourmelen, Johannes Schenk von Grafenberg und eine Reihe anderer. Tagliacozzi schrieb in der ihm eigenen blumig-metaphorischen Art, alle Genannten hätten zwar eine feste Meinung zu der
Ars reparatoria,
jedoch nie an einer entsprechenden Operationen teilgenommen, geschweige denn selbst eine durchgeführt. Da ich ihn gut gekannt hatte, war mir klar, welches Vergnügen ihm dieser Seitenhieb auf seine Kollegen bereitet haben musste.
Und noch etwas war mir klar: Er hatte meinen Namen schon zum zweiten Mal ganz bewusst nicht erwähnt.
Wie nahe geht dir das?, fragte ich mich, und ich erkannte, dass es fast genauso weh tat wie beim ersten Mal. Es war einfach ungerecht, meinen Namen nicht zu erwähnen. Es war falsch, es war kleingeistig, es war …
Ich mahnte mich, ruhig zu bleiben, und sagte mir, dass ich andere Sorgen hätte, als mich über einen Toten zu ärgern. Aber dieser Tote lebte weiter. Er lebte weiter durch seine Werke, und in ebendiesen Werken hatte er meinen Beitrag zur Wissenschaft verschwiegen. Mehr noch, er hatte ihn sich an die eigene Brust geheftet.
Nachdem der Sturm meiner Gefühle etwas abgeflaut war, rief ich mir einen Satz von Aristoteles ins Gedächtnis, jenem großen Philosophen, der so oft und gern von Tagliacozzi zitiert worden war. Er lautet:
Glück ist Selbstzufriedenheit
.
War ich mit mir selbst zufrieden? In gewisser Weise schon. Der Trubel, die Hektik, die Jagd nach Ruhm, alles das, was in der Großstadt Bologna so wichtig war, zählte für mich nicht mehr. Für mich zählte nur noch das, was mich umgab: die Natur, die Berge, die Tiere – Latif.
Und doch: Es nagte weiter in mir, und einige Tage später, als wir abends beim Feuer saßen, sagte ich zu Latif: »Ich habe mich zu etwas entschlossen, aber ich kann es nicht allein durchführen. Würdest du mir dabei helfen?«
»Lass mich raten, was du vorhast.«
»Das rätst du nicht.«
»Vielleicht doch, Maria.« Latif unterbrach seine Lektüre im Koran. »Du willst die Geschichte deines Lebens niederschreiben, stimmt’s?«
Ich staunte. »Ja, es stimmt, aber wie konntest du das wissen, wo ich es doch bis eben selbst nicht wusste?«
»Ich kenne dich. Ich habe dich beobachtet, während du in den Büchern des schändlichen Mannes lasest. Sicher hat er wieder vergessen, deine Leistungen zu erwähnen.«
»Es scheint, als könnte ich vor dir keine Geheimnisse haben. Ich möchte einen Lebensbericht aufsetzen und darin die Wahrheit ans Licht bringen. Ich hoffe, dass irgendwer irgendwann den Bericht finden wird, vielleicht lange nachdem es uns beide nicht mehr gibt: in fünf, in zehn oder auch erst in fünfzig Generationen. Er wird lesen, wie es zuging in unserer Zeit und in unserem Land, er wird lesen von verschwenderischem Reichtum und bitterem Elend, von Hoffart und Demut, von Fastenzeiten und Fressgelagen, von Neid, Missgunst und Intrigen, aber auch von wahrer Treue und edelmütiger Freundschaft. Er wird erkennen, wie viel Ungerechtigkeit und Unterdrückung den Frauen widerfuhr, wenn sie den Anspruch erhoben, den Männern gleichgestellt zu sein, und er wird ungläubig den Kopf schütteln über die Bestechlichkeit der Beamtenschaft, die Verdorbenheit der Priesterschaft und die tödliche Borniertheit der Inquisition … Über alles das will ich berichten, und mein Leben soll dabei als Beispiel dienen. Willst du mir helfen, die Wahrheit aufzuschreiben?«
»Ja, Maria, das will ich.«
»Dann wirst du Hunderte von Seiten im Schein des Feuers schreiben müssen, Abend für Abend, Nacht für Nacht, und du wirst am Ende ein Buch aus den Seiten binden müssen, das gut geschützt an einem versteckten Ort die
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