Die Medica von Bologna / Roman

Jahrhunderte überdauern kann. Traust du dir diese Aufgabe zu?«
    »Ja, Maria.« Latif legte den Koran beiseite. »Nichts in unserem Leben geschieht ohne den Willen Allahs, und es ist gewiss kein Zufall, dass ich gerade in der Fünften Sure las. Darin steht, dass die Wahrheit gleichermaßen Erfüllung und Wächter unseres Lebens ist. Allah, der Erbarmer, der Barmherzige, wird mir helfen, deine Wünsche zu erfüllen und deine Geschichte wortgetreu festzuhalten.«
    »Ich danke dir, Latif«, sagte ich gerührt. »Aber wie du weißt, ist es eine lange Geschichte. Es werden vielleicht Jahre vergehen, bis ich sie zu Ende erzählt habe – wenn ich sie überhaupt bis zum Ende erzählen kann.«
    »Das macht nichts. Die Wahrheit ist jede Mühe wert.«
    »Und wann sollen wir beginnen?«
    »Jetzt gleich, Maria, jetzt gleich.«
     
    Vier Jahre sind seitdem verstrichen. Ich lebe noch und bin in der Gegenwart zurück. Es war wichtig, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen, obwohl ich manches Mal glaubte, ich müsse aufgeben, wenn die tückische Krankheit mich niederwarf. Doch immer wieder war es Latif, der mir Mut zusprach und mich dazu ermunterte, ihm mein Leben bis zum Schluss in die Feder zu diktieren.
    Ich empfinde keinen Triumph, nur tiefe Genugtuung, denn ich habe die Wahrheit, dieses kostbare Gut, unverblümt nach bestem Wissen und Gewissen beim Namen genannt. Auch mir selbst gegenüber.
    Was zu sagen war, habe ich gesagt. In meinem Herzen herrschen Frieden und Gelassenheit, dazu die leise Zuversicht, dass »die Medica von Bologna« eines Tages wiederauferstehen wird.
    Ich habe jetzt Zeit.
    Was draußen in der Welt passiert, berührt mich nicht mehr. Ob der Papst im Vatikan Urban, Gregor, Innozenz oder Clemens heißt, der Sultan in Istanbul stirbt, ein neuer Doge in Venedig regiert oder in England ein König eine Königin ablöst – das alles ist mir gleichgültig. Ebenso wie das Gerücht, der Leichnam Gaspare Tagliacozzis sei nach seinem Tod aus der Gruft hervorgeholt und in unbekannter Erde verscharrt worden, weil die Kirche ihn und sein Werk als ungesetzlich und wider die Natur verdammt habe.
    Zeit ist ein Geschenk Gottes, und ich preise den Allmächtigen, dass ich den Rest meiner Tage mit Latif am wärmenden Feuer verbringen darf. Während ich das letzte Kapitel meines Lebensberichts schilderte, ist etwas in mir gewachsen. Ich habe gespürt, dass nicht mein Verstand, sondern mehr und mehr mein Herz die Worte sprach, die Latif niederschrieb. Ein tiefes, starkes, nie gekanntes Gefühl zu ihm durchströmt mich, ein Gefühl jenseits aller Vertrautheit, Geborgenheit und Zuneigung …
    Ja, Latif, ich spreche von dir, hebe dein Gesicht und sieh mich an, damit ich es dir sagen kann: Ich glaube, ich liebe dich. Schau nicht so verdattert drein. Ich glaube, ich liebe dich wirklich. Endlich habe ich es erkannt. Lege den Federkiel beiseite, ja, lege ihn beiseite und komm zu mir.
    Komm auf diese Seite des Feuers …

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Anhang
    Die Sechs Akte zur Rekonstruktion
einer Nase nach Gaspare Tagliacozzi
    Alle Abbildungen aus: Gnudi/Webster,
The Life and Times of Gaspare Tagliacozzi, Surgeon of Bologna,
New York 1950

Der Erste Akt
    D er folgende Holzschnitt zeigt einen Patienten mit Nasenstumpf sowie den Bereich seines linken Oberarms, aus dem später der Lappenstiel für die Nasenrekonstruktion herausgetrennt wird. Der Erste Akt besteht in der Herstellung eines brückenförmigen Lappens, der oben und unten noch mit der Armhaut verbunden ist. Mit Hilfe einer Sonde wird ein Leinenstreifen unter dem Hautlappen hindurchgezogen und verknotet. Dadurch wird eine Entzündung begünstigt, die durch die Behandlung mit Umschlägen und Salben eine gewünschte Eiterung zur Folge hat. So soll das Fleisch für die Verpflanzung »vorbereitet« werden.
    EE
Vorderansicht des Nasenstumpfs
AG
Der über dem Muskelgewebe herausgetrennte Hautlappen
CD
Der obere Teil des Lappens
HQ
Der untere Teil des Lappens
BE
Leinenstreifen

Der Zweite Akt
    E r findet vierzehn Tage nach dem Ausstechen des brückenförmigen Hautlappens statt, nachdem die Armwunde in ihrer Veränderung und Vereiterung sowie Alterung und Austrocknung genau beobachtet wurde. Er besteht darin, den Lappen an der zur Schulter gelegenen Seite aufzuschneiden, wodurch er an drei Seiten offen ist, das heißt, er hängt nur noch an der zum Ellbogen hin gelegenen Seite. Ein Lappenstiel ist entstanden.
    GDH
Der herausgelöste Lappenstiel
H
Das Ende des Lappens
G
Die Seite, an der er noch