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Die Nacht traegt dein Gesicht

Die Nacht traegt dein Gesicht

Titel: Die Nacht traegt dein Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kajsa Arnold
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schämen müsste.
    » Ich habe ihn.« Triumphierend kommt Alex aus seinem Arbeitszimmer und hält den Ordner in die Höhe.
    »Was ist denn los?«
    »Wir haben ein Meeting und ich habe wichtige Unterlagen vergessen. Denke an deinen Termin bei mir um vierzehn Uhr. Dann sprechen wir über den Job für dich, okay?« Er küsst mich auf die Stirn und schon ist er aus der Tür.
    Mein stiller Beobachter wirft mir noch einen letzten Blick zu, wendet sich grußlos ab und folgt Alex. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss. Na dann, guten Morgen!
    Ich lasse mich auf den oberen Treppenabsatz und meinen Kopf gegen die Wand fallen. Mann, der Jetlag bringt mich um.

    Alex hat die glorreiche Idee, dass ich als seine Assi stentin fungieren kann, bis ich Arbeit gefunden habe . Die Chance, mitten in Frankfurt am Main einen Job als Meeresbiologin zu finden, geht wohl eher gegen null. Sein Angebot ist aber besser als nichts, auch wenn es nur ein öder Bürojob ist bei irgend so einer Holding, die Museen und Galerien verwaltet. Bis ich weiß, wohin es mich demnächst beruflich verschlägt, kann ich bei meinem Bruder wohnen. Da wir keine weiteren Angehörigen haben, hat er dieses schicke Einfamilienhaus am Frankfurter Westend gekauft, damit es einen Fixpunkt in unserem Leben gibt. Mir hätte auch eine kleine Wohnung gereicht. Seit Mutter bei einem Verkehrsunfall vor drei Jahren ums Leben kam, hat es sich Alex zur Hauptaufgabe gemacht, mir ein bodenständiges Zuhause zu bieten. Damals studierte ich noch und kam ihn in den Semesterferien immer für einige Wochen besuchen.
    Ich glaube, dass unsere Mutter starb, hat ihn w esentlich schwerer getroffen als mich. Dabei ist er das Kind, das adoptiert wurde und ich bin die leibliche Tochter unserer Eltern. Alex war schon immer der ruhige und zuverlässige Junge, den Mutter sich so sehr gewünscht hatte, während ich die unstete, wilde Tochter gab, die nicht früh genug das Nest verlassen konnte, zum Leidwesen meiner Mutter. Vater, ein amerikanischer Soldat, fiel in Afghanistan. Nach seinem Tod hat sie uns zwei ganz allein großgezogen. Dad habe ich meinen für deutsche Verhältnisse exotischen Vornamen zu verdanken.
    Wäre Mum noch am Leben, wäre sie sicherlich sehr stolz auf Alex, so, wie ich es auch bin. Vermutlich habe ich Alexander meine Existenz zu verdanken, denn unsere Mutter konnte keine Kinder bekommen, so hatte es ihr zumindest der Arzt vorausgesagt. Daraufhin adoptierten meine Eltern einen Jungen – Alex. Er war damals zwei Jahre alt, ein hübsche s Kind mit blonden Haaren, wie auf alten Babyfotos zu sehen ist. Sechs Jahre später wurde meine Mutter aus heiterem Himmel mit mir schwanger.
    Alex war für mich schon immer mehr Freund als Bruder, was vermutlich an dem Altersunterschied liegt. Mit ihm kann ich alles besprechen. Dass unsere Mutter uns so früh verließ, hat uns noch enger zusammeng eschweißt, auch wenn ich in der letzten Zeit versuche, mich abzunabeln, denn Ale xʼ besonderer Beschützerinstinkt geht mir manchmal mächtig auf die Nerven.

    ~

    Ungeduldig drücke ich zum dritten Mal auf den Knopf, um den Fahrstuhl zu rufen. Ich weiß, dass es nichts nützt, doch irgendwie muss ich meiner Nervosität Luft machen. Ich warte bereits seit einer Ewigkeit, einen der anderen vierundzwanzig Aufzüge habe ich nur um eine Nasenlänge verpasst.
    Der Messeturm in Frankfurt. 257 Meter hoch, macht der Art déco Turm aus rot poliertem Granit wirklich etwas her, vor allem als Firmensitz. Ich kann es nicht glauben, dass Alex hier arbeitet. Aber wäre dies auch ein Arbeitsplatz für mich? Meine Stimmung ist heute nicht die Beste, dabei bin ich kein launischer Mensch. Es ist nur so, dass meine berufliche Niede rlage an meinen Nerven zerrt. Ich habe mir nicht die Nächte mit Meeresbiologie und Wirtschaftswissenschaften um die Ohren geschlagen, damit ich als graue Büromaus ende.
    Hinter mir bildet sich eine Traube von Menschen, die auch in die oberen Stockwerke wollen. Endlich ertönt der Gong und die Türen des Aufzugs gleiten auseinander. Der Fahrstuhl kommt aus der Tiefgarage, ein einziger Fahrgast steht an der hinteren verspiegelten Wand. Ich schlüpfe schnell hinein, ohne genau hinzuschauen, und werde von der Menschenmasse nach hinten gedrückt. Sofort macht sich meine Klaustrophobie bemerkbar. Hoffentlich hat jemand den obersten Knopf betätigt, damit ich in der richtigen Etage lande.
    Nervös zupfe ich an meiner Jacke. Dunkelblau passend zu meiner hellblauen Bluse und der weißen Hose.

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