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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Randbemerkungen zu versehen. Auf der Bäckerrechnung: Nur Primzahlzwillinge?! Auf der Zeitung: argumentum ad misericordiam . Auf dem Toilettenspülkasten: Zur Hälfte leeren reicht . »Wart mal«, sagte er oft. Dann federte er hoch und bekam gute Laune. Viele der Entdeckungen meines Vaters wurden mit »Wart mal« eingeläutet. Dann begann er mit der Reparatur unseres Radios und endete bei der Neuerfindung des Otophons. Oder er fand auf dem Sint-Pietersberg ein neues Moostierchenfossil, das sich bei näherer Betrachtung als die Hälfte eines altbekannten entpuppte. Als Anhänger der nicht-monotonen Logik korrigierte er vor allem sich selbst. Unser Haus füllte sich mit Gekritzel. Bei der Toilette wurde eine Verdeutlichung angefügt: = circa zwei Sekunden . Von außen konnte man schließlich nicht sehen, wie hoch das Wasser stand. Das war keine Schulmeisterei. Er hatte schlichtweg herausgefunden, daß der Spülkasten für seinen Zweck zu groß war. Ganze Abende brachte er schreibend und streichend zu, in chaotischen Stapeln dünner Hefte. Wenn sie verschwanden, vermißte er sie nicht mal. »Wieder ein paar Probleme aus der Welt«, sagte meine Mutter, wenn das Papier im Ofen vor sich hin schwelte. Sie kam ihr ganzes Leben lang mit einem Urteil aus. Das bildete sie sich rasend schnell, ein Vorteil, den Gläubige gegenüber Wissenschaftlern haben. Was haben die beiden je ineinander gesehen? Meine Mutter scheinterst nach meiner Geburt so fromm geworden zu sein. Eine Woche lang lag sie hellwach im Wochenbett, davon überzeugt, sie bräuchte nicht zu schlafen, da sie bereits gestorben wäre. Lust, ihr Kind zu stillen, hatte sie nicht. Wenn ich zu ihr gebracht wurde, geriet sie in Panik, sie glaubte, sie würde mich mit dem Tod anstecken. Beim Abpumpen mußte sie würgen. »Riechst du das denn nicht?« fauchte sie die verdatterte Wochenbetthilfe an, »die Milch ist längst verdorben!« Schließlich hat meine Tante den Pfarrer geholt, der hat meine Mutter in den Schlaf gebetet. »Von dem Tag an wachte ich neben einer wildfremden Frau auf«, sagte mein Vater, »die zufällig deine Mutter war.«
    Es war eine furchtbar schlechte Ehe. Dienstmädchen kamen und gingen, ihr Abschied wurde stets vom Geheul meiner Mutter eingeläutet. Wenn ich sie loslegen hörte, wußte ich, wir würden ein neues Mädchen bekommen. Vater war auch nicht ohne. Ein paarmal sah die Nachbarschaft ihn mit einem riesigen Koffer unser Haus verlassen, den er so munter durch die Luft schwenkte, daß sofort klar war, er war leer. Es ging um die Geste: »Deine Mutter und ich lassen uns scheiden.« Zu guter Letzt wurde ich mit diesem Koffer nach Aachen geschickt, doch beim ersten Mal, als mein Vater mit dem Ding auf der Schwelle gestanden hatte, ging ich mit ihm, und er erzählte mir vom Krieg.
    1914 hatte er sein Studium an der Universität Amsterdam unterbrochen, um dem Roten Kreuz in seiner Heimatstadt seine Dienste anzubieten. Er stellte sich nicht als Held hin. Die Versorgung Verwundeter lieferte ihm einzigartige praktische Erfahrungen und schützte ihn vor der Mobilisierung. Die Front verlagerte sich jedoch so schnell nach Süden, daß in den Maastrichter Notlazaretten Langeweile ausbrach. Ein halbes Jahr später saß mein Vater bereits wieder im Zug nach Amsterdam. Er mußte weiterstudieren für sein Arztdiplom, zu jener Zeit das Höchste, was man mit dem Abschluß der Höheren Bürgerschule erreichen konnte. Er hätte zu gern promoviert, nach Ablegung des Gymnasialabiturs. Da aber kündigte ich mich an. In Wyck wurde eine Arztwohnung frei. Die Spanische Grippe kam und ging, danach gab es in erster Linie Verkehrsopfer. In der City ohne Verkehrsampeln verdoppelte sich die Zahl der motorisierten Fahrzeuge fast jährlich. Jeder fuhr einfach drauflos. Die Busse der Omnibusunternehmen taten es halsbrecherisch, außer mit der Straßenbahngesellschaft mußten sie auch noch miteinander konkurrieren. Den Anblick gräßlicher Verletzungen kannte mein Vater aus dem Krieg. Als Hausarzt kümmerte er sich nur um die Nachsorge. Herr Bonhomme kam unter den Studebaker der Gebrüder Kerckhoffs und betäubte seinen Phantomschmerz in der Kneipe. Mein Vater holte ihn ab, als der Wirt sich wegen des üblen Gestanks beklagte.
    »Papa?«
    »Mmmm …«
    »Wann wächst das Bein von Herrn Bonhomme wieder an?«
    »Nie. Vielleicht fällt das andere in Kürze auch ab.«
    »Jacq! Halt dich zurück.«
    Ohne meine Mutter wäre ich vielleicht ein sehr merkwürdiges Kind geworden. Sie wachte

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