Die Pilgerin
von Vater geträumt und sah ihn im Fegefeuer leiden. Er hat mich verflucht, denn mit meiner Wallfahrt zum Apostel Jakobus hätte ich es ihm ersparen können, und er drohte mir das Höllenfeuer an, würde ich mich nicht ungesäumt auf den Weg machen.«
Willingers Stimme überschlug sich, und bei seinen letzten Worten begann er am ganzen Körper zu zittern. Die Angst um sein Seelenheil war weitaus größer, als seine Zuhörer ahnten, denn er hatte noch um einiges härter geschachert als sein Vater und war vor Lug und Trug nicht zurückgeschreckt. Trotzdem war es ihm gelungen, den Anschein eines ehrbaren Handelsmanns aufrecht zu halten. Hier in seiner Heimatstadt wusste niemand um die dunklen Stellen in seinem Leben, auch Koloman Laux nicht, der sich für seinen besten Freund hielt.
»Ich muss nach Santiago pilgern! Gott kann doch nicht so grausam sein, mir dies zu verwehren. Sonst wird mir vor dem Jüngsten Gericht keine Erlösung zuteil.« Der Kranke wimmerte vor Verzweiflung.
Tilla beugte sich über ihn und streichelte seine welken Hände. »Vater, beruhige dich doch! Es wird alles gut werden.«
Willinger sah sie mit trüben Augen an. »Du bist ein gutes Mädchen, Tilla, und verstehst meine Not. Ich vergehe vor Angst vor der ewigen Verdammnis. Nur der heilige Jakobus kann mich davor erretten. Du musst mir eines versprechen: Sollte der Tod mich ereilen, bevor ich diese Pilgerfahrt antreten kann, sorge bitte dafür, dass mir mein Herz aus dem Leib genommen und in der Nähe des Apostelgrabs beerdigt wird!«
»Du wirst gewiss wieder gesund werden und selbst nach Santiago wallfahren können, Vater.« Tillas Stimme schwankte und ihr strömten Tränen übers Gesicht.
Koloman Laux trat neben sie und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Versprich es ihm! Du siehst doch, wie sehr sein Gewissen ihn quält. Schließlich verlangt dein Vater ja nichts Unbilliges! Sollte Gott ihm die Pilgerreise verwehren, kann dein Bruder sie antreten oder einen Vertreter schicken, der das Herz nach Santiago bringt und es dort begraben lässt.«
»Nein, kein Fremder! Es muss jemand von meinem Blut sein!« Willinger keuchte und riss die Augen so entsetzt auf, als wäre der Höllenwächter bereits dabei, das Tor zu Luzifers Reich für ihn zu öffnen.
Tilla befürchtete, er würde sich so sehr aufregen, dass es mit ihm zu Ende ging, und lächelte unter Tränen. »Du wirst nach Santiago gelangen, Vater! Gelingt es dir selbst nicht mehr, dann wird dein Herz dorthin gebracht. Sollte Otfried sich weigern, deinen Willen zu erfüllen, dann werde ich an seiner Stelle gehen. Das schwöre ich dir bei meiner eigenen Seligkeit und beim Blute unseres Herrn Jesus Christus!«
Ein tiefer Seufzer brach über Willingers Lippen und er wurde sichtlich ruhiger. »Du bist ein gutes Kind, Tilla! Dir vertraue ich, und du wirst nicht allein stehen, wenn es so weit ist. Mein Freund Koloman und ich sind uns einig, was deine Zukunft betrifft. Sein Damian ist ein stattlicher Mann und braucht bald eine Frau. Möge Gott es lenken, dass ich meinen Segen zu eurem Bunde geben kann, ehe ich diese Welt verlassen muss.«
Laux ergriff die Hand seines Freundes und drückte sie sanft. »Ich kümmere mich um Tilla, aber ich lasse sie nicht nach Santiago ziehen. Otfried wird gehen! Er kann und darf sich dieser Pflicht nicht entziehen. Dafür werde ich schon kraft meines Amtes sorgen. Es wäre jedoch besser, wenn du die Verpflichtung zur Wallfahrt in dein Testament aufnimmst. Weigert dein Sohn sich dann immer noch, deinen letzten Willen zu erfüllen, bleibenihm die Türen des Ratssaals versperrt und kein ehrlicher Handelsmann in unserer Stadt und darüber hinaus wird noch ein Geschäft mit ihm abschließen.«
»Danke, mein Freund! Ich werde deinen Rat befolgen. Doch jetzt bin ich müde und will ein wenig schlafen. Wenn ich wieder wach bin, lasse ich den Stadtschreiber kommen, damit er als Notar meinen letzten Willen beurkundet.« Der Kranke nickte Laux lächelnd zu und bat Tilla, einige der Kissen aus seinem Rücken zu entfernen. Sichtlich besorgt half diese ihrem Vater, sich bequem zu betten, und wandte den Blick erst von ihm ab, als er mit einem entspannten Gesichtsausdruck eingeschlafen war.
»Es war gut, dass du geschworen hast, deines Vaters Willen zu erfüllen. Nun kann er unbesorgt ruhen.« Mit diesen Worten wollte Laux Tilla beruhigen, aber als sie ihn verschreckt ansah, bemerkte er, wie zweideutig sie geklungen hatten. Um ihr ein wenig die Ängste zu nehmen, strich er
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