Die Prophetin
untersuchen. Aber zuerst ging sie zum Waschbecken und kühlte sich das Gesicht ab. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr in der nüchternen Klarheit des hellen Morgens, daß sie müde und erschöpft aussah. Wie konnte Julius behaupten, sie sei schön? Catherine fand ihr Gesicht in keiner Weise außergewöhnlich, obwohl sie vermutlich sehr viel jünger als sechsunddreißig aussah. Trotz der anstrengenden Jahre unter der heißen Sonne bei Ausgrabungen in Israel und Ägypten war es ihr bis jetzt irgendwie gelungen, dem Schicksal aller Archäologen zu entgehen, ständig unter Sonnenbrand zu leiden und ein Gesicht voller Falten und Krähenfüße zu haben. Die großen grünen Augen, ein Erbe ihrer Mutter, fand auch Catherine schön. Immerhin waren die langen kastanienbraunen Haare, die sie im Nacken mit einer Spange zusammenhielt, noch nicht von grauen Fäden durchzogen. Aber jetzt stellte sie seufzend fest, daß ein neues Zeichen des Alters hinzugekommen war: eine senkrechte Falte zwischen den Augen. Die Falte war entstanden, weil sie bei ihrer konzentrierten Arbeit immer unbewußt die Augenbrauen zusammenzog. Bisher war sie stets wieder verschwunden. Doch obwohl Catherine das Gesicht jetzt bewußt entspannte, blieb die Falte deutlich sichtbar.
›Du wirst nicht jünger‹, hörte sie eine spöttische Stimme flüstern.
Catherine lächelte. ›Du auch nicht, mein lieber Julius…‹ ›Sie brauchen einen Mann‹, hatte Hungerford gesagt. Catherine hatte einen Mann. Leider befand er sich neuntausend Meilen entfernt am anderen Ende der Welt. Julius fehlte ihr… Catherine schaffte genügend Platz auf dem überfüllten Arbeitstisch. Dann öffnete sie eine Klappe am Zeltdach, um das Morgenlicht hereinzulassen.
Die Sonnenstrahlen fielen auf ein Photo, das sie mit Klebeband über dem Arbeitstisch befestigt hatte: Julius lächelte sie an, als unterhalte er sich gerade mit ihr.
Er sah wirklich gut aus, hatte schwarze Haare, einen gepflegten Bart und, wie sie fand, geheimnisvolle dunkle Augen. Dr. Julius Voss war vor zwei Jahren auf einer Archäologen-Tagung in Oakland in ihr Leben getreten. Catherine hatte dort ein Thesenpapier vorgestellt mit dem Titel: Bestimmung der Herkunft von Ton bei Keramik der Bronzezeit mit Hilfe der optischen Emissionsspektroskopie.< Julius war Mediziner und hatte sich auf Krankheiten im Altertum spezialisiert. Er hielt einen Vortrag über das auffällig häufige Vorkommen von Unterarmbrüchen bei ägyptischen Skeletten, besonders bei Frauen.
Er vertrat die Auffassung, daß diese Brüche entstanden waren, als der Arm zur Selbstverteidigung gehoben wurde, um einen Schlag abzuwehren. In der Mittagspause lernten sie sich kennen, und die gegenseitige Anziehung war augenblicklich spürbar. Es war wirklich so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gewesen.
›Warum, Cathy?‹ hörte sie ihn wieder fragen, als befinde er sich plötzlich in ihrem Zelt. ›Warum willst du mich nicht heiraten? Es kann doch nicht daran liegen, daß du keine Jüdin bist. Das ist nicht der Grund. Du weißt, daß ich von dir nicht verlange, meine Religion anzunehmen.‹
Catherine würde sich niemals zu seinem Glauben bekehren, selbst wenn er das verlangen sollte. Sie hatte ihm bereits gesagt, daß sie keine Religion brauchte. Der Katholizismus ihrer Kindheit und Jugend reichte, um ein Leben lang genug von Religionen zu haben. Aber es gab andere Gründe dafür, daß sie Julius nicht heiraten konnte, auch wenn sie ihn noch so sehr liebte. Das Problem ließ sich nicht so leicht in Worte fassen: Julius war Jude, genauer gesagt ein gläubiger Jude. Nicht die Tatsache, daß er Jude war, bereitete ihr Unbehagen, sondern seine Frömmigkeit. Catherine liebte Julius. Wenn sie sich über wissenschaftliche Themen oder über gemeinsame Interessen unterhielten, dann konnte sie frei und ungezwungen mit ihm reden, für ihn dasein und ihm zuhören. Aber jedesmal, wenn es um Religion ging – und das würde nicht ausbleiben, wenn sie in seine große orthodoxe Familie einheiratete –, dann erfaßte sie eine unbestimmte, namenlose Angst.
Catherine schob mit einem leisen Seufzen den Gedanken an Julius beiseite und konzentrierte sich auf das Fragment. Sie überflog die griechischen Buchstaben, doch das Wort ›Jesus‹ fand sie nur an einer Stelle.
Aber das war bedeutsam genug. Bestand möglicherweise eine Verbindung zwischen diesem christlichen Dokument und der Prophetin des Alten Testaments, nach der sie hier auf der Sinaihalbinsel suchte? Gab das
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