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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mascha Vassena
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Schwierigkeiten geriet, würde ihre Gefährtin sie rufen.
    Sie schlenderte zu Nicolas und Fédéric hinüber, die ausnahmsweise einträchtig unter einem Holunderbusch lagen und schliefen. So dicht nebeneinander wurde noch deutlicher, dass sie unterschiedlicher nicht sein konnten: der eine mit kastanienbraunen Locken, breiten Schultern und kräftigen Händen, der andere blond, hellhäutig und gertenschlank. Kein Wunder, dass sie sich nicht verstanden – sie kamen aus verschiedenen Welten. Dennoch wünschte Julie, es wäre anders. Sie setzte sich zwischen die beiden und versuchte zu ergründen, wen von beiden sie lieber mochte. Fédéric gehörte ebenso zu ihr wie Songe, er war beinahe ein Teil von ihr. Sie mussten sich nur ansehen, um zu wissen, was der andere dachte, und sie wusste, dass Fédéric sein Leben für sie hingeben würde, sollte es nötig sein. Nicolas hingegen war auf aufregende Weise unbekannt. Er war so anders als alle Jungen, die sie kannte, so ge wandt und selbstsicher … und gut aussehend. Selbst jetzt, in seinem zerrissenen Hemd, sah er aus wie ein junger Gott. Und er roch gut, sogar nach allem, was sie in den letzten zwei Tagen mitge macht hatten – sie hätte den ganzen Tag an ihm schnuppern können.
    Julie seufzte. Sie wünschte, sie müsste sich gar nicht entscheiden, und eigentlich hatte sie weit dringendere Sorgen. Vor den anderen tat sie zwar, als wüsste sie genau, was sie vorhatte, in Wirklichkeit hatte sie jedoch keinen konkreten Plan. Diesen Plomion zu finden, würde ihnen vielleicht gelingen – falls die Cherubim sie nicht vorher zu fassen bekamen –, aber wie sie an den Erzengel herankommen sollten, wusste sie nicht. Er war sehr mächtig, viel mächtiger als sie. Die Wahrscheinlichkeit, dass er sie tötete, war wesentlich höher als die, dass sie die Möglichkeit erhielt, ihn zu beseitigen. Und selbst wenn: Wäre sie fähig zu töten? Männer töteten, aber konnten Frauen das auch? Sie hatte in Paris von Fällen gehört, in denen Mütter ihre Neugeborenen erstickt oder ihre Ehemänner vergiftet hatten, aber das war etwas ganz anderes, als jemandem einen Dolch in den Leib zu rammen oder mit einer Pistole auf ihn zu schießen.
    Julie krallte ihre Finger in den Waldboden und spürte, wie Erde unter ihre Fingernägel drang. Was sollte sie nur tun? Zwei Herzschläge lang überlegte sie, ob sie Nicolas’ Angebot doch annehmen und mit ihm fliehen sollte, aber sie wusste, dass sie nicht vor sich selbst davonlaufen konnte. Gabrielles und Jacques’ Tod müsste gesühnt werden, sonst würde sie für den Rest ihres Lebens nie mehr frei sein.
    Sie zuckte zusammen, als etwas ihre Hand berührte. Es war Nicolas, dessen Fingerspitzen zart über ihre Haut strichen.
    »Worüber denkst du nach?«, sagte er leise und sah zu ihr auf, ohne sich zu bewegen.
    »Weshalb tust du das alles?«, fragte sie.
    Er zuckte mit den Schultern. Seine Augen waren halb geschlossen. Julie wollte die Blätterschatten nachzeichnen, die auf seiner Haut flimmerten.
    »Vielleicht langweilen mich die Vergnügungen adliger junger Männer«, murmelte er. »Oder vielleicht nutze ich die Gelegenheit, meiner Mutter die Erniedrigungen heimzuzahlen, mit denen sie mich Missgeburt bedacht hat, seit ich auf der Welt bin.«
    »Du bist ganz sicher keine Missgeburt.«
    Julie strich ihm sanft über die Stirn. Er nahm ihre Hand und legte sie an seine Schläfe. Als sie aufsah, begegnete sie Fédérics Blick. Er lag reglos im Gras und sah sie an. Schnell zog sie ihre Hand von Nicolas zurück und versteckte sie in den Falten ihres Rocks.
    Sie brachen wieder auf, als Ruben aus dem Wald zurückkehrte. Er schien sich beruhigt zu haben, und Songe berichtete Julie, dass er lange auf einem Baumstumpf gesessen und mit einem Stock Linien in den Boden gezeichnet hatte. Julie drängte die anderen zum Aufbruch, denn sie wollte so wenig Zeit wie möglich verlieren. Falls die Comtesse und die Cherubim tatsächlich nach ihnen suchten, war es besser, nicht zu lange an einem Ort zu bleiben.
    Weil es zu mühsam war, sich weiter durch das Unterholz zu schlagen, hielten sie sich jetzt parallel zu den Waldwegen. Hier war das Durchkommen leichter, und sollte ihnen jemand begegnen, konnten sie sich schnell ins Gebüsch zurückziehen. Sie orientierten sich am Sonnenstand und hofften, nicht zu weit von ihrer ursprünglichen Richtung abzukommen. Glücklicherweise waren die Schneisen des königlichen Jagdwaldes schnurgerade und über lange Strecken angelegt, und die

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