Die Prophezeiung der Seraphim
gepflegtes Eckhaus. Julie dachte, dass sie und die drei Jungen einen etwas merkwürdigen Anblick boten in ihren schmutzigen Kleidern und mit ihren verschrammten Gesichtern. Die Silbermünzen würden ihren Aufzug ausgleichen, dennoch war Julie erleichtert, dass die Gaststube voller Menschen war und sie nicht zu sehr auffielen. Zwar wandten sich ihnen einige Gesichter zu, als sie sich zwischen den Tischen hindurchdrängten, aber niemand bekundete großes Interesse an ihnen.
Sie fanden Platz an einer Ecke eines langen Tisches. Songe rollte sich unauffällig auf Julies Schoß zusammen, während Nicolas bei der Magd Lammeintopf und Wein für alle bestellte.
Julie, die zwischen Nicolas und Fédéric saß, lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Erst jetzt merkte sie, wie erschöpft und angespannt sie war. Zu viel war in den letzten zwei Tagen geschehen, und wenn sie daran dachte, was vor ihnen lag, bekam sie Angst. Sie wusste, dass sie der Herausforderung nicht gewachsen war, die der Zufall oder das Schicksal ihr zugeteilt hatte, aber das durften die anderen nicht merken. Fédéric und Nicolas waren zerstritten, Ruben kam nur widerwillig mit ihnen – jemand musste die Gruppe zusammenhalten und alle Zweifel im Keim ersticken. Und das war wohl ihre Aufgabe.
Sie öffnete die Augen und überblickte ihre kleine Truppe, die sich gerade über den Eintopf hermachte. Wer zahlen kann, braucht selbst in diesen Zeiten keine Not zu leiden , dachte sie. Ihr Blick schweifte weiter durch den Raum. Das Wirtshaus war gut besucht, aber die Gäste waren keine Bauern, sondern gut gekleidete Leute, die wahrscheinlich auf den königlichen Gütern angestellt waren oder den Hof belieferten. Einige Reisende in staubigen Klei dern waren auch unter ihnen, vereinzelt sogar Edelleute in samtenen Gehröcken.
»Iss, wer weiß, wann es das nächste Mal etwas gibt«, sagte Nicolas und stellte Julie einen Teller hin. Der Eintopf roch wunderbar nach Fleisch und Rosmarin. Während sie genüsslich aß, lauschte Julie den Gesprächen um sich herum.
Die Ereignisse in Paris waren in aller Munde. Tatsächlich hatte das Volk die Bastille gestürmt und alle Gefangenen befreit – worüber dröhnend gelacht wurde, denn es waren deren genau sieben gewesen, alle von Adel.
»Ich hab schon immer gesagt, dass es gefährlich ist, die Armen hungern zu lassen«, sagte ein Mann, der mit seiner zerzausten Perücke wie ein Schulmeister aussah und am anderen Ende ihres Tisches saß. »Weil der König die Nationalversammlung nicht aufgelöst hat, sind sie übermütig geworden und glauben jetzt, sich zu Herren aufschwingen zu dürfen.« Seine blassblaue Aureole flackerte und Julie spürte, dass er auf allgemeine Zustimmung hoffte.
»Es war unklug, das Bauernpack bei den Gesetzen mitreden zu lassen«, stimmte sein Nachbar zu, ein Dicker mit rotem Gesicht und Säufernase, den ein ungesunder orangefarbener Schein umgab. »Diese Leute wissen doch gar nicht, was gut für sie ist.«
Nun mischte sich ein jüngerer Mann vom Nebentisch ein: »Aber weshalb wissen die einfachen Leute nicht, was gut für sie ist? Weil es ihnen an Bildung fehlt. Lehrt sie Lesen und Schreiben, und sie werden vernünftige Entscheidungen treffen.«
Der Dicke hieb so heftig auf den Tisch, dass sein Becher umkippte und sich eine rote Lache auf dem Tisch ausbreitete. Er achtete gar nicht darauf, sondern fuhr donnernd fort: »Blödsinn! Wozu muss ein Bauer die Zeitung lesen können?«
Sein Tischnachbar lachte und zeigte dabei seine verrotteten Zähne.
»Das Problem ist der König, Messieurs«, mischte sich ein Vierter ins Gespräch, dem Aussehen nach ein Reisender. »König Louis ist zu gutmütig, zu menschenfreundlich. Er liebt all seine Untertanen gleichermaßen, doch ein König muss auch unangenehme Entscheidungen treffen.« Er machte eine Pause und vergewisserte sich, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. »Und deshalb hat er die klügsten Berater ganz Frankreichs gewählt, um die aufrührerischen Kräfte unter Kontrolle zu halten. Binnen Kurzem wird alles wieder seine Ordnung haben.«
»Ach ja, und wer sollen diese Berater sein, die das Volk wieder in das Dunkel der Unwissenheit zurückstoßen sollen?«, fragte der jüngere Mann.
Der Reisende lächelte. Julie konnte den Blick nicht von ihm wenden. Ihr war, als hätte sie ihn schon einmal gesehen, aber gleichzeitig war sie ganz sicher, ihm noch nie begegnet zu sein. Er hatte ein jungenhaftes Gesicht, doch feine Falten um die Augen
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