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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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    E RST ALS ER DAS G EWEHR HERAUSHOLTE , bekam sie Angst.
    Seit sie am frühen Morgen erwacht war, hatte sie gespürt, daß dies kein normaler Tag war. Die Strophe eines Liedes, das ihr Vater manchmal sang, ging ihr durch den Kopf. »Die Männer im Wald, die fragten mich einst: Wie viele wilde Erdbeeren wachsen im Meer?« Romy hatte das Lied immer blöd gefunden. Im Meer wuchsen doch keine Erdbeeren! Aber dieser Tag heute war so merkwürdig, daß sie an die verkehrte Welt des Liedes denken mußte, in der nichts richtig war, nichts so war, wie es sein sollte. »Mit Tränen im Auge fragt’ ich zurück: Wie viele Schiffe segeln im Wald?« Nein, der Tag war nicht normal. Aber das hatte ihr keine Angst gemacht. Angst bekam sie erst, als ihr Vater das Gewehr herausholte.
    Das Gewehr wurde in einem hohen Schrank im oberen Flur aufbewahrt. Von ihrem Versteck aus sah Romy zu, wie ihr Vater den Schlüssel ins Schloß schob und die Tür aufzog. Mit seinen kräftigen, schwieligen Fingern strich er über den Doppellauf der Waffe und hielt plötzlich wie unsicher geworden inne. Aber dann öffnete er das Schloß und legte zwei Patronen ein.
    Romy hatte sich in dem grünen Schrank am Ende des Flurs versteckt. Er war klein und eng, sie mußte sich hinknien, sonst hätte sie gar nicht hineingepaßt. Sie hörte die lauten Rufe aus dem Garten und beobachtete durch ein Astloch in der Schranktür ihren Vater. Immer wenn man im Haus etwas suchte und nicht fand, pflegte ihre Mutter zu sagen: Schaut doch mal im grünen Schrank nach. Alles, was alt und hoffnungslos kaputt war, landete im grünen Schrank: eine einzelne Gamasche, an der alle Knöpfe abgerissen waren; eine Teekanne mit angeschlagener Tülle und ohne Deckel. Die Teile eines Puzzlespiels drückten gegen Romys Knie, und Federn aus einem zerschlissenen alten Kopfkissen schwebten im Dunkeln um sie herum wie sanfte graue Schneeflocken. Obwohl sie Schal und Mantel anhatte, war ihr kalt; so kalt, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen. Sie fürchtete, ihr Vater könnte es hören. Wenn er wüßte, daß sie im Haus war, würde er sie mit Mam und Jem fortschicken. Und sie mußte doch bei ihm bleiben.
    Die Männer im Wald, die fragten mich einst … Romy fröstelte. Die lauten Stimmen ihrer Eltern hatten sie am Morgen geweckt; die ihres Vaters trotzig und wütend, die ihrer Mutter schrill und voller Tränen. Keiner schien an Frühstück oder Schule zu denken. Es gab kein Porridge und kein Brot. Das Feuer im Herd war ausgegangen. Niemand hatte Wasser geholt. Jem war noch nicht einmal halb angezogen, hatte nur Hemd und Unterhose an und einen Schuh. Romy half ihm ungeduldig in den zweiten, schnürte die Bänder und zog ihrem Bruder danach den Pulli so energisch über den Kopf, daß er schrie, sie reiße ihm ja die Ohren ab.
    Auf der Uhr auf dem Kaminsims hatte sie gesehen, daß es halb neun war. Sie hätten längst zur Schule unterwegs sein müssen. Sie hätte sich gern über die zusätzlichen Minuten zu Hause gefreut, aber dazu war ihre Beunruhigung zu groß. Mam und Dad schienen die Schule ganz vergessen zu haben; als wäre sie völlig bedeutungslos. Romy fragte sich, was da passiert sein konnte, daß ihr Vater, der sonst immer sagte, die Schule sei das allerwichtigste, plötzlich keinen Gedanken mehr daran verschwendete.
    Sie hatte, schon fertig angezogen und mit hungrig knurrendem Magen, in der Küche gestanden und gewartet, während ihre Mutter geweint und ihr Vater gebrüllt hatte, und schließlich hatte sie sich unbemerkt nach oben geschlichen, um sich dort im grünen Schrank zu verstecken. Sie mochte den grünen Schrank. Immer wenn sie traurig war oder Ärger hatte und nicht gefunden werden wollte, pflegte sie sich dort zu verkriechen. Damals, als sie Annie Paynter den Kopf in den Wassertrog getunkt hatte, war sie hinterher auch im grünen Schrank untergeschlüpft; einen Moment lang erheiterte sie die Erinnerung daran, wie Annie das schmutzige Wasser aus den triefnassen blonden Locken getropft war. Und wenn sie helfen sollte – Birnen pflücken oder Kohlen holen oder dergleichen –, versteckte sie sich ebenfalls oft im Schrank. Aber ihre Mutter fand sie immer. Jem mochte den grünen Schrank nicht, weil es drinnen so eng und finster war, da hatte er stets Angst vor Gespenstern.
    Nach einer Weile hörte sie ihre Mutter schreien: »Glaub ja nicht, daß ich hierbleibe und zusehe, wie sie dich ins Gefängnis abtransportieren!« Und ihr Vater brüllte zurück: »Dann nimm auch gleich die

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