Die Rache des Samurai
Zōjō-Tempel schlichtweg verschwiegen und Sano statt dessen ins Sumpfland geschickt. Überdies stiegen Zweifel in Sano auf, was Aois Beschreibung des Täters betraf. Voller Schrecken wurde ihm klar, daß er dieser Frau nicht mehr traute – und dennoch bei jedem Gedanken an sie ein wildes Begehren verspürte, das seinen Körper heiß durchströmte und sein Herz schneller schlagen ließ.
»Welche Befehle soll ich meinen Helfern erteilen?« riß Hiratas Frage Sano aus seinen Gedanken.
Als Sano daran dachte, wie geschickt der junge dōshin im Tempel vorgegangen war, kam ihm eine Idee, wie er Hirata sinnvoller einsetzen konnte. »Hast du eigentlich Spitzel?« fragte er. »Gute Leute, die dir bei der Arbeit von Nutzen sein können?«
»Nur sehr wenige.« Doch das Funkeln in Hiratas Augen strafte seine Bescheidenheit Lügen.
»Dann laß deine Helfer nach der Sänfte suchen. Du selbst fragst deine Spitzel, ob sie den Mann kennen, der mich angegriffen hat. Seine Beschreibung hast du ja. Hinterlasse am Tor des Palasts eine Nachricht für mich, falls du etwas herausfindest. Wenn ich dich für andere Aufgaben brauche, schicke ich jemand zu den Polizeikasernen und lasse dir Bescheid geben.«
»Ja, sōsakan-sama .«
Sano beobachtete, wie sein Helfer davonritt, und ein leises Lächeln spielte um seine Lippen. Inzwischen saß Hirata wie ein erfahrener Reiter im Sattel; aus seiner Haltung sprachen Selbstvertrauen und Zuversicht, als er das Pferd durch die Menschenmenge auf der Straße lenkte. Er trug seinen Stolz wie eine Kriegsflagge, die am Rücken eines Soldaten befestigt war.
Wenigstens einem von uns beiden machen diese Nachforschungen Freude, dachte Sano wehmütig.
Er wendete sein Pferd, um zum Palast von Edo zu reiten. Vielleicht hatte Noguchi in den Archiven inzwischen die Nachkommen General Fujiwaras ausfindig gemacht und er wollte den Schneidern die Kimonos der geheimnisvollen Zeugin zeigen. Es gab viele Wege, die Sano beschreiten konnte, und jeder – oder keiner – konnte ihn zum Mörder führen, bevor die restlichen vier Tage der Frist abgelaufen war, die der Shōgun ihm gesetzt hatte. Doch eines stand fest: Heute abend würde er Aoi treffen und von ihr eine Erklärung verlangen.
In den Archiven des Palasts von Edo wurde Sano von Noguchi durch das Hauptstudierzimmer geführt, in dem Schreiber und Adepten über alten Urkunden saßen; dann ging es den Flur hinunter zu Noguchis Schreibstube. Im Inneren standen Truhen an den Wänden; drei Reihen tief und bis in Schulterhöhe mit Papieren beladen, verdunkelten sie teilweise die Fenster. Jedes Regal und der größte Teil des Fußbodens war mit Stapeln von Urkunden bedeckt. Noguchis Pult, auf dem in wirrer Unordnung Schreibzeug lag, bildete eine kleine Insel inmitten dieses Meeres aus Papier. Eine düstere Vorahnung stieg in Sano auf, als er sich fragte, was Noguchi ihm zu sagen hatte, daß er eine so kleine, verschwiegene Kammer für ihr Gespräch ausgewählt hatte und keinen der bequemeren, größeren Räume.
Noguchi räumte ein Stück des Fußbodens frei, kniete nieder und bedeutete Sano, es ihm gleich zu tun. »Ich hoffe, es geht Euch gut«, sagte er dann.
Sano erkannte, daß diese Floskel dazu dienen sollte, ihn hinzuhalten. Noguchi wollte nicht gleich zur Sache kommen – weder zu der seinen, noch zu Sanos. Eine seltsame, verstohlene Wachsamkeit verdüsterte die sonst so offene und freundliche Art des Archivars.
»So gut, wie unter den gegebenen Umständen zu erwarten«, erwiderte Sano und berichtete Noguchi von dem Mord am Zōjō-Tempel.
»O nein. Große Güte«, murmelte der Archivar. Dann wand er sich verlegen und sagte nach einer Pause: »Sano- san , zu meinem Bedauern muß ich Euch mitteilen, daß ich mich nicht weiter an Euren beruflichen Aufgaben beteiligen kann. Den Grund dafür könnt Ihr Euch sicher denken, nicht wahr?«
Sano wandte den Blick ab, um sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Wahrscheinlich hatte Noguchi erfahren, was auf der Ratsversammlung geschehen war. Nun wollte er ihre Bindungen lösen, um nicht mit in Sanos Unglück hineingezogen zu werden. Dadurch aber verlor Sano seinen einzigen Freund im Palast. Und das gerade jetzt, wo er Mitgefühl und Hilfe so dringend benötigte.
»Trotzdem«, fuhr Noguchi fort, »braucht Ihr nicht zu befürchten, daß unsere persönliche Beziehung endet. Das wird erst dann der Fall sein, wenn Ihr dafür sorgen möchtet, daß jemand anders meinen Platz einnimmt. Und heute werde ich noch
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