Die Rache des Samurai
Frühjahr strömten die Schaulustigen zum Tempel, um die liebliche Szenerie zu betrachten und über die Vergänglichkeit des Lebens nachzusinnen, die von den kurzlebigen Blüten so schmerzlich und ergreifend verkörpert wurde. Überall auf den grasbewachsenen Hängen des Hügels standen Kirschbäume mit ihren üppigen, blattlosen Blüten; es sah aus, als würden unter dem blaßblauen Himmel rosafarbene Wolken über den grünen Wiesen schweben. Wie Schneeflocken fielen Blütenblätter auf die Wege, auf das Gras und auf die Köpfe der gemächlich dahinschlendernden Besucher, oder sie wurden vom Wind in Richtung des von Kiefern umstandenen, silberglänzenden Shinobazu-Sees getragen.
Doch Sano, der sein Pferd draußen vor der Tempelmauer hatte stehenlassen, nahm von seiner Umgebung kaum Notiz, als er sich eilig durch die Menschenmenge schlängelte und über die kiesgedeckten Gehwege eilte; an Hallen, der Pagode und Pavillons vorüber. Es wurde höchste Zeit, wollte er pünktlich zu seinem miai kommen.
Sano hörte die berühmten Schreie der Krähen von Ueno nicht, die über ihm ihre Kreise zogen; er sah nicht die farbenprächtige Kleidung der Besucher, die sich zum Essen unter freiem Himmel niedergelassen hatten: wunderschöne Frauen, spielende Kinder, betrunkene Männer, die tanzten, sangen und über die Rasenflächen tollten. Die drückende Last seiner Arbeit und der bevorstehende miai , dieses so überaus wichtige gesellschaftliche Ritual, ließen Sano all die Freuden und Schönheiten gar nicht wahrnehmen, die so viele andere Menschen genossen.
Endlich erschien die Kiyomizu-Halle vor ihm, ein prächtiges Bauwerk mit leuchtendrot gestrichenen Wänden und blauem Ziegeldach; von einer Galerie aus konnte man hinaus auf den Shinobazu-See schauen. Sano ging über die breite Promenade am Ufer des Sees entlang. Entschuldigungen murmelnd, zwängte er sich an einer Gruppe schnatternder Frauen vorbei, die identische, grüne und weiße Sonnenschirme aus Papier trugen. Er drängte sich zwischen weiteren Ausflüglern hindurch, stürmte die Promenade hinunter – und blieb abrupt am grasbewachsenen Hügel stehen, auf dessen Kuppe sich die Kiyomizu-Halle befand. Er zuckte zusammen, als ihm klar wurde, welch schlimmen gesellschaftlichen Fehltritt er getan hatte.
Es war abgesprochen, daß Sano frühzeitig eintreffen sollte, um sich seiner Mutter und Noguchi anzuschließen, mit den beiden einen gemächlichen Spaziergang über die Promenade zu machen und dann – wie durch Zufall – Magistrat Ueda und dessen Tochter zu begegnen. Dieses Possenspiel hätte es beiden Parteien ermöglicht, bei einem Scheitern der Hochzeitsverhandlungen so zu tun, als hätte der miai niemals stattgefunden und auf diese Weise das Gesicht zu wahren. Doch Sanos Verspätung hatte eine solche Scharade unmöglich gemacht.
Alle Beteiligten hatten sich bereits am vereinbarten Treffpunkt an der Promenade versammelt, unter der berühmten Mondkiefer, deren Name von dem Ast herrührte, der zu einem makellosen Kreis gewachsen war. Sano sah seine Mutter, auf den Arm ihres Hausmädchens Hana gestützt; Noguchi und Magistrat Ueda, einen untersetzten Samurai mittleren Alters, der schwarze Zeremonienumhänge trug, die mit goldenen Familienwappen verziert waren. Bei ihm stand eine schlanke junge Dame mit seidigem schwarzem Haar, das ihr bis zu den Knien reichte; sie trug einen prachtvollen, roten und weißen Kimono und wurde von zwei Dienerinnen begleitet. Die junge Frau war Ueda Reiko, Sanos angehende Braut, sofern der miai erfolgreich verlief. Ungeachtet der Versuche, freundliche Gelassenheit zu zeigen, war allen anzumerken, daß sie ob der peinlichen Situation, in die Sano sie gebracht hatte, wahre Todesqualen litten.
Sano, der schwitzend und keuchend herbeigerannt kam, stieß hervor: »Bitte verzeiht mein spätes Erscheinen, aber ich trage keine Schuld daran. Es tut mir leid, daß ich Euch Ungelegenheiten bereitet habe.« Er verbeugte sich vor den Anwesenden, die er kannte. »Noguchi- san . Mutter. Hana.«
Im Lächeln seiner Mutter lag leiser Tadel. Sie sah dünner und schwächer, zugleich aber heiterer und gelassener aus als bei der letzten Begegnung mit Sano. Noguchi runzelte mißbilligend die Stirn, daß die Falten seinen kahlen Schädel hinaufkrochen, als er mit gezwungener väterlicher Freundlichkeit erklärte: »Na ja, nun seid Ihr ja hier, und nur darauf kommt es an.« Er wandte sich an den anderen Mann. »Magistrat Ueda, darf ich Euch Sano Ichirō vorstellen,
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