Die Rache des Samurai
Waffenkampf zu üben. »Der Täter könnte auch ein umherziehender rōnin gewesen sein.«
Seltsamerweise schien Doktor Ito Sanos Enttäuschung nicht zu teilen. Mit leisem Kichern sagte er: »Ihr habt eine schwierige Aufgabe; aber Ihr dürft die Hoffnung noch nicht aufgeben. Laßt uns jetzt den Kopf untersuchen.«
Sie gingen zu dem zweiten Tisch, an dem bereits Mura stand und die Umwicklung des kleineren Bündels entfernte. Als Sano den Inhalt sah, verdrängte das Entsetzen augenblicklich all seine Sorgen. Mit einer Mischung aus Ekel und Bewunderung preßte er hervor: »Ein makelloses Exemplar.«
Sano hatte Berichte über die scheußlichen Zeremonien gelesen, die in alten Zeiten im Anschluß an Schlachten stattgefunden hatten, als man dem siegreichen Fürsten die Köpfe der getöteten Feinde zu Füßen legte. Dieser bundori entsprach bis ins kleinste Detail den historischen Vorbildern. Der demütig gesenkte Blick, der sorgfältig geflochtene Pferdeschwanz, das viereckige Brett, auf das die Trophäe aufgespießt war, das mit Wangenrot geschminkte Gesicht, der Geruch nach Weihrauch – dies alles entsprach genau dem, was in klassischen Kriegshandbüchern für die Herstellung eines bundori vorgeschrieben war. Selbst Tokugawa Ieyasu wäre hocherfreut gewesen, hätte man ihm ein solches Exemplar zu Füßen gelegt.
»Aber das erhärtet lediglich den Verdacht, daß der Täter ein Samurai ist, der weiß, wie man eine Trophäe präpariert«, sagte Sano. Mit spitzen Fingern hob er das Schildchen an, das am Pferdeschwanz befestigt war. Dann runzelte er verwundert die Stirn, als er die Tusche-Schriftzeichen las.
»›Araki Yojiemon‹?«
»Soviel ich weiß, waren in früheren Zeiten an den bundori kleine Zettel befestigt, auf denen der Name des Toten stand«, sagte Doktor Ito. »Wahrscheinlich wußte der Mörder nicht, wer Kaibara gewesen ist, und hat sich irgendeinen anderen Namen ausgesucht, damit das Schildchen nicht ohne Aufschrift blieb.«
»Aber warum hat er gerade diesen Namen gewählt?«
Sano konnte sich erinnern, daß Araki Yojiemon ein Gefolgsmann Tokugawa Ieyasus während des Sengoku Jidai – der Zeit des Krieges – vor mehr als hundert Jahren gewesen war. Der Aaraki-Klan hatte den Tokugawa über Generationen hinweg gedient. Yojiemon war General in jenen Schlachten gewesen, die Ieyasu gegen Fürst Oda Nobunaga geführt hatte, als dieser mächtige Kriegsherr die Hand nach der Macht im Lande ausgestreckt hatte. Doch Sano konnte keine Verbindung zwischen Araki Yojiemon und dem Mord an Kaibara Tōju erkennen.
»Und wenn der Mörder nicht wußte, wer Kaibara gewesen ist – was war dann sein Motiv?« fragte Sano verwundert. »Warum hat er einen völlig fremden Mann getötet?«
Doktor Ito zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht.«
Einer plötzlichen Regung folgend, löste Sano das Etikett und steckte es zu Kaibaras Geldbeutel unter seine Schärpe. Er mußte herausfinden, welche Bedeutung das Etikett besaß – sofern es überhaupt von Bedeutung war –, und er hatte bereits eine Vorstellung, wie er dies bewerkstelligen konnte.
»Habt Ihr noch irgendeinen Rat für mich, Ito -san? « fragte er.
Auf diesen Augenblick hatte der Arzt offensichtlich gewartet. Mit triumphierender, strahlender Miene verkündete er: »Ja. Ich habe wichtige Neuigkeiten für Euch. Und falls Ihr versteht, sie Euch zunutze zu machen, braucht Ihr vielleicht gar keinen Rat mehr. – Mura?«
Er nickte dem Eta zu, der eine große, braune tönerne Urne aus einem Schrank nahm. »Sano-san, es ist mir ein zweifelhaftes Vergnügen, Euch davon in Kenntnis zu setzen, daß dieser ungewöhnliche Mord nicht der erste war, der auf diese Art und Weise begangen wurde.«
»Nicht der erste? Was meint Ihr damit? Woher wißt Ihr das?« Verwirrt schaute Sano den Freund an.
Doktor Ito lächelte nur und lenkte Sanos Aufmerksamkeit mit einem Wink der Hand auf den Eta.
Mura hievte das schwere Tongefäß auf den Tisch. Mit einem scharfen Messer kratzte er das Wachs ab, mit dem der Deckel versiegelt war, nahm ihn ab und legte ihn zur Seite. Dann schob er die Hände in die Urne, wobei er vor Abscheu das Gesicht verzog.
Sano stieß einen leisen Schrei des Entsetzens aus, als er sah, was Mura aus dem Gefäß nahm und auf den Tisch legte. Reiswein, der offensichtlich als Konservierungsmittel gedient hatte, strömte über den abgetrennten Kopf eines Mannes. Über die Augen des Toten hatte sich ein trüber weißer Film gelegt, und die Haut hatte einen grauweißen
Weitere Kostenlose Bücher