1421 - Totenklage
Elena Davies kannte sich aus. Sie wusste genau, wie sie gehen musste. Wo es gefährlich war und wo nicht. Den Wald hatte sie längst hinter sich gelassen. Vor ihr lag jetzt die recht freie Fläche eines uralten Moorgebiets, das nicht überall ausgetrocknet war. Es gab noch genügend Stellen, die man als gefährlich einstufen musste und die nur von Menschen begangen werden konnten, die sich auskannten.
Elena verlangsamte ihre Schritte. Ihre Absätze drückten sich in den weichen Boden. Dabei entstanden saugende Geräusche oder auch ein Schmatzen, aber Elena wusste nicht, wie sich das wirklich anhörte. Sie hörte nichts, sie war taub.
Sie konnte es sich vorstellen, sie malte es sich aus, sie wusste vieles, aber die Geräusche des normalen Lebens liefen an ihr vorbei.
Und trotzdem musste sie los. Wie fast in jeder Nacht im Sommer.
Das hier war eine besondere, denn über dem Moor stand der fast volle Mond und glotzte herab.
Er war das gelbe Auge, das alles unter Kontrolle hielt. Er schickte sein Licht über die weite Fläche, sodass sie einen fahlen und auch unheimlichen Glanz erhielt. Manchen Menschen wäre er verwunschen vorgekommen und vielleicht auch märchenhaft, doch die meisten scheuten den Weg zum nächtlichen Moor, weil sie sich vor dem fürchteten, was der Mond mit seinem Schein unter Umständen erwecken könnte.
Das Moor steckte voller Geheimnisse. Im Laufe der Jahrhunderte hatte es viele tief in sich begraben. Nur hin und wieder gab es eines dieser Geheimnisse frei. Dann aber hatten Menschen eingegriffen und einen bestimmten Teil der Fläche trockengelegt. Ansonsten schwieg sich die dunkle Fläche aus.
Elena kannte ihren Weg genau. Sie ging eigentlich nie den gleichen, sondern suchte sich immer einen anderen aus. Sie trug entsprechendes Schuhwerk, und sie war auch nie in Gefahr geraten, im Moor zu versinken. Sie fühlte sich mit diesem Gebiet verbunden. Es war einfach für sie gemacht, und sie genoss es, es in den Sommernächten aufzusuchen.
Nicht weit von ihr entfernt breitete sich der erste Tümpel aus. Dort gab es auch einen schmalen Steg, an dem ein Boot lag. Sie wusste nicht, wem es gehörte, aber dass der alte Kahn bewegt wurde, das hatte sie bereits herausgefunden.
Auch jetzt schickte sie einen Blick dorthin und ebenfalls über die Wasserfläche.
Sie sah nach wie vor dunkel aus, aber sie hatte durch den Mondschein einen helleren Glanz bekommen. Fast zu vergleichen mit einem düsteren Spiegel, der alles in sich eingesaugt hatte.
Sie schauderte leicht zusammen, aber sie blieb stehen wie jemand, der eine Haltestelle erreicht hatte und nun darauf wartete, dass der Bus kam und stoppte.
Hier kam so schnell niemand. Zumindest nicht in der Nacht. Von Ausnahmen abgesehen. So schaute sie weiterhin nach vorn und überließ sich dem leichten Nachtwind, der über die Fläche strich und auch gegen ihr Gesicht wehte. Er brachte den typischen Moorgeruch mit. Nach altem Brackwasser roch es. Nach Pflanzen, die in den Zustand der Fäulnis übergegangen waren oder sich auf dem Weg dahin befanden. Es war alles so anders als am Tage und in einer normalen Umgebung. Hier schien der Mensch der Natur besonders nahe zu sein.
Elena genoss es, einfach nur am Rand des Moors zu stehen und über die Fläche zu schauen.
Ein verdammt heißer Tag lag hinter ihr. Die Erde dampfte, ebenso wie das Wasser. So umwehten die fremden Gerüche ihre Nase, die sie intensiver aufnahm als jemand, der normal hörte.
Der Himmel war nicht völlig blank.
So sah sie keine Sterne, die ihn bestückt hätten. Dafür ein paar Wolken, die unwesentlich wanderten und dem Mond fast immer freie Sicht ließen.
Für Elena gab es nur die Stille. Sie lebte in dieser stillen Welt, und das würde auch so bleiben.
Das jedenfalls glaubten die meisten Menschen. Elena ließ sie in ihrem Glauben, denn ihr Geheimnis wollte sie für sich behalten. Es war etwas Besonderes, daran gab es nichts zu rütteln. Auf der einen Seite war es wunderbar, auf der anderen unheimlich, und Elena hatte bisher noch mit niemandem darüber gesprochen.
Und jetzt stand sie wieder an der Grenze. Sie wartete darauf, dass es passierte. Bisher hatte man sie nie im Stich gelassen, und das würde auch jetzt so sein.
Plötzlich hörte sie etwas!
Ja, sie konnte hören.
Sie vernahm Stimmen!
Es waren nicht die der Menschen. Zudem befand sich niemand in ihrer Nähe. Es waren die Stimmen der Toten…
***
Elena stand auf dem Fleck und bewegte sich nicht. Nur in ihrem Gesicht hatte sich
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