Die Rache des Samurai
›Putzweide‹, an der Besucher haltmachten, um sich nach ihrer Anreise zu schniegeln und zu striegeln. Heute aber waren die Männer, die sich unter der Weide versammelt hatten, nicht damit beschäftigt, sich den Staub aus der Kleidung zu klopfen oder ihr Haar zu kämmen. Statt dessen starrten sie neugierig auf das Feld unterhalb der Böschung des Dammes.
»Hier ist es, sōsakan-sama «, sagte der Sicherheitsbeamte und schlitterte den steilen Hang zum Feld hinunter.
Sano band sein Pferd an der Weide fest und folgte dem Mann. Hohes Gras peitschte seine Beine. Am Fuß der Dammböschung sah er zwei weitere Angehörige der Sicherheitstruppe von Yoshiwara, die vor einer am Boden liegenden Gestalt standen, über die eine Decke gebettet war. Raben, Krähen und Möwen, vom frischen Fleisch angelockt, kreisten kreischend über dem Bündel und strichen dann und wann gefährlich tief über die Männer hinweg. Feuchte Erdklumpen zerbröckelten unter Sanos Sandalen als er über das Feld ging. Ein paar Schritte vom Körper entfernt blieb er stehen.
Blut hatte die Erde rings um den Leichnam getränkt. Sano konnte die klebrigen Ausdünstungen des Todes riechen; sie überdeckten die Gerüche der frischen Erde und des nächtlichen Taues. Sein Magen verkrampfte sich, als die Männer, die verzerrten Gesichter abgewandt, langsam die Decke fortzogen.
Der untersetzte, stämmige Körper des kopflosen Mannes lag auf dem Rücken; die Knie waren angezogen, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt. Getrocknetes Blut hatte seinen Kimono, die Beinlinge, die an den Zehen geschlitzten Strümpfe und die Strohsandalen braun gefärbt. Insekten umschwärmten den Körper; am Halsstumpf wimmelte es bereits von Fliegen. Das Gefühl, beschmutzt zu sein, wurde in Sano übermächtig. Als er sich nach vorn beugte, um sich den durchtrennten Hals genauer anzuschauen, verschaffte er sich dadurch Erleichterung, daß er Doktor Itos Gesicht vor seinem geistigen Auge entstehen ließ und sich vorstellte, sein Freund wäre an seiner Seite.
»Ein einziger Schlag, sauber und gekonnt«, sagte er. »Genau wie beim letztenmal.«
Als Sano sich die Frage stellte, wie es dem Mörder gelungen sein mochte, sein Opfer von der Straße zu locken, stieg ihm der Geruch von Reisschnaps in die Nase. War der Mann betrunken gewesen, so wie Kaibara? Hatte er sich deshalb nicht verteidigen können? Sano betrachtete Rumpf und Gliedmaßen, entdeckte aber keine weiteren Verletzungen. Doch zwei unerwartete Feststellungen erstaunten ihn.
»Wo sind seine Schwerter?« fragte er die Sicherheitsbeamten. Hatte der Mörder sie mitgenommen? Wäre es ein Beweis, wenn er, Sano, die Schwerter bei einem Verdächtigen entdeckte?
Als die Beamten erklärten, nichts über den Verbleib der Schwerter zu wissen, richtete Sano seine Aufmerksamkeit auf ein abgewickeltes Stück Lendenschurz, das unter dem Kimono des Toten hervorschaute. Plötzlich begriff er. Das Opfer hatte die Straße verlassen, um seinen Darm zu entleeren; der Mörder hatte dies beobachtet und die Gelegenheit zum Angriff genützt. Auch bei diesem Mord hatte es den Anschein, als wäre eine verrückte, sinnlose Gewalthandlung an einem Opfer begangen worden, das dem Täter schlichtweg gelegen kam. Doch Sano konnte sich nicht vorstellen, daß der Mörder sich willkürlich Endō Munetsugus Namen aus der Reihe der großen Kriegshelden Japans ausgesucht hatte. Überdies bezweifelte er, daß Kaibaras Verwandtschaft mit Araki Yojiemon ein purer Zufall war. Jetzt mußte er den Beweis dafür erbringen – zuerst, indem er einer möglichen Verbindung zwischen dem neuen Opfer und Endō Munetsugu nachging.
»Bringt die Überreste zur Leichenhalle von Edo«, sagte er zu den Sicherheitsbeamten. Vielleicht entdeckte Doktor Ito den fehlenden Hinweis. »Anschließend befragt ihr jeden, der gestern nacht das Himmlische Vergnügen besucht hat.«
Als die Männer das letzte Stück der Dammböschung hinunterstiegen und zu den Toren Yoshiwaras gingen, verspürte Sano aufkeimenden Widerwillen. In dem Vergnügungsviertel waren alle Arten der Prostitution erlaubt, und für unverschämt hohe Preise bekam man hier Speisen, Getränke und Zerstreuungen aller Art geboten, von Theateraufführungen über Glücksspiele bis hin zu weniger harmlosen Vergnügungen. Doch in Sanos Augen war Yoshiwara trist und trostlos.
Eine neuerliche Nacht der Gewalt und des Todes trübte seinen Blick auf das ausgelassene, bunte Treiben und verdrängte die Erinnerungen an die angenehmen
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