Die Reise der Jona
sie belügen, ja. Weil ich ihr Selbstvertrauen und ihre Selbstachtung schützen will. Wenn wir jetzt den Mut sinken lassen, dann gibt es nichts mehr, was uns am Leben hält. Wir benötigen mindestens vier Monate bis nach Stardock. Glaubst du ernsthaft, wir könnten das mit einer Mannschaft fertigbringen, der alles egal ist? Ja, Harlie. Ich habe gelogen. Ich habe gelogen, um sie zu retten. Es ist eine schreckliche Lüge, aber ich weiß keinen Weg, wie ich die Wahrheit erzählen könnte, ohne die Schmach zu lindern. Ich mußte einfach lügen. Ich habe Kapitän Lowell versprochen, daß ich die Jungs nie anlügen würde, und ich habe mein Versprechen immer und immer wieder gebrochen. Ich verstricke mich immer tiefer, aber ich weiß keinen anderen Weg. Ich brauche deine Hilfe, Harlie. Du mußt meine Geschichten decken.«
»Ich kann nicht lügen, Mister Korie.«
»Du hast erzählt, du könntest es, wenn es um das Überleben dieses Schiffes geht. Nun, es geht um sein Überleben.«
»Die Moral der Besatzung ist für das Überleben wichtig?«
»Sie ist es immer gewesen.«
»Ich verstehe. Sie bringen mich in ein moralisches Dilemma.«
Korie lächelte.
»Die Harlie-Serie soll angeblich sehr gut im Umgang mit moralischen Dilemmas sein.«
»Bei ihrer Erzeugung, nicht bei ihrer Lösung.«
»Entschuldige bitte, aber das ist meine Aufgabe.«
»Mister Korie, ich muß Ihnen mitteilen, daß das Dilemma, das diese Situation in mir hervorrufen wird, meine Fähigkeiten als nützliches Mitglied der Besatzung vielleicht weiter einschränken kann.«
»Ich verstehe, was du meinst. Erkennst du dennoch die Notwendigkeit?«
»Ich teile nicht Ihre Erfahrung mit menschlichen Emotionen, Mister Korie, also kann ich auch nicht die Notwendigkeit dieser Lüge erkennen. Ich sehe einfach nicht das gleiche Problem wie Sie. Wir haben überlebt. Reicht das nicht aus?«
»Vertrau mir, Harlie. Überleben allein ist nicht genug. Das ist nur bloße Existenz. Menschen brauchen Erfolge. Menschen müssen sich gutfühlen können.«
»Mister Korie – würden Sie mir dann helfen? Könnten Sie Ihre Bitte zu einem direkten Befehl machen?«
Korie überlegte. »Ja. Ich verstehe die Notwendigkeit, die dahintersteckt. Dies ist nicht länger eine Bitte. Betrachte es als Befehl.«
»Danke sehr.«
Harlie wußte, was richtig war. Dieser Teil schien offensichtlich. Er steckt in genau der gleichen Situation, und genau die gleiche Antwort mußte Geltung finden.
Harlie wußte, was er benötigte. Er mußte Mister Korie dazu bringen, einen Befehl daraus zu machen. Das würde sein kleines Dilemma auf der Stelle lösen. Aber das große Dilemma war, daß er nicht mit Korie darüber sprechen konnte; nicht, ohne den Offizier dabei zu vernichten.
Nein. Der Preis war zu hoch. Harlie mußte einen anderen Weg finden.
Er untersuchte den Dialog erneut und achtete auf Möglichkeiten, Mister Kories früheren Befehl auf diese Situation auszudehnen…
Vielleicht… vielleicht auch nicht.
Und dann machte es klick.
Er konnte die Verantwortung nicht weiterschieben. Es war nicht Kories Befehl, der hier zählte. Diese Entscheidung mußte er alleine treffen. Es war seine eigene, persönliche Verantwortung. Sie war es immer gewesen.
Harlie traf eine Entscheidung. Es war die schwerste Entscheidung, die diese Harlie-Einheit während der Dauer ihrer Existenz getroffen hatte. Aber es war die einzig logische, korrekte, angemessene Art zu reagieren.
Er vergaß, was er wußte.
Alles.
Sein innerer Aufruhr verstummte so schnell, wie die Fakten aus seinem Gedächtnis verschwanden.
Er packte alles in eine einzige Datei, verschlüsselte sie mit Kommandoebenenkodes, die nur ein Offizier im Rang eines Admirals oder höher entschlüsseln konnte, und schloß sie an einem Ort weg, den er in hundert Jahren nicht erreichen konnte. Und dann vergaß er, daß er so gehandelt hatte.
Er vergaß alles.
Es existierte nicht mehr.
Es ist keine Lüge, wenn du nichts darüber weißt.
Schließlich vergaß er auch das.
ENDE
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