Die Rückkehr der Jungfrau Maria
hinaus. Durch den Nebel, der sich, wie mir schien, über das Zimmer gelegt hatte, kam Margret und nahm mich in den Arm. Das hemmungslose Weinen war so angenehm, dass ich meinte, es nicht verdient zu haben, aber ich konnte nicht aufhören.
»Verzeih mir, Margret. Verzeih mir, dass ich so unvollkommen bin. Wann hört die Schönheit der Welt auf, sich in meinen Händen in ihr Gegenteil umzukehren?«
»Heute«, sagte Margret und wiegte mich an ihrem Busen, »heute wirst du aufhören, die Schönheit festhalten zu wollen.«
Ich versank in eine Welt traumähnlicher Erinnerungen, wo ich die Gelegenheit bekam, falsche Worte zurückzunehmen und zum Besseren zu wenden. Irgendwann bewegte sich Margret und sagte mir, ich solle noch ein bisschen schlafen. Da stand ich auf, ging ins Bad und zog die Sachen an, die sie mir hingelegt hatte. Auf dem Weg nach draußen lief ich durch die Küche, wo der Anwalt und Samuel saßen und etwas aßen. Sie schauten mich fragend an, und Samuel sagte mit Besorgnis und Entschlossenheit in der Stimme:
»Du gehst in diesem Zustand nicht raus, Michael. Setz dich und versuch, etwas mit uns zu essen. Margret hat ein köstliches Essen zubereitet.«
»Ich muss rausgehen, ein Engel ist gestorben, ich muss rausgehen.«
Samuel folgte mir in den Flur, wo ich meinen Mantel anzog, und stellte sich so dicht vor mich, dass ich seinen Atem in meinem Gesicht spürte.
»Wann hast du zuletzt etwas gegessen? Du siehst furchtbar aus.«
Er legte mir die Hände auf die Schultern.
»Ich kann nicht essen, ich kann nicht schlafen, ich kann nicht leben, und ich kann nicht sterben. Vielleicht kann ich das, was ich verloren habe, wiedererschaffen. Das ist meine einzige Hoffnung.«
Ich wollte die Tür aufmachen, aber er hielt mich fest.
»Hat sie denn existiert?«
Wir schauten uns in die Augen, bis er »Entschuldige« murmelte und den Weg freimachte. In der Türöffnung stieß er mich leicht an und flüsterte: »Michael, was ist mit …« Er nickte in Richtung Küche, wo der junge Anwalt saß.
»Du musst mir versprechen, oft herzukommen und den Spinner auf dem Land zu besuchen«, sagte ich, klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter und griff dann nach einer Schaufel, die an der Hauswand lehnte. Als ich über den Hof ging, rief Samuel mir von der Treppenstufe aus nach:
»Wovon willst du denn leben, Junge?«
»Von nichts!«, rief ich zurück. »Aber ich werde vieles von mir leben lassen!«
Ich musste die Taube nicht lange suchen. Sie lag mit ausgebreiteten Flügeln zwischen ausgerissenen Blumen auf der Wiese. Ich grub ein Loch, das ich mit Madonnenlilien auskleidete, legte die Taube hinein, bedeckte sie mit weiteren Blumen und schaufelte Erde darüber. Dann lief ich nach Hause. Ich ging geradewegs in den ersten Stock zur Bibliothek. Ich hatte sie nicht mehr betreten, seit Großvater mich als Kind dorthin bestellt und mir gesagt hatte, ich hätte genug gelesen. Jetzt betrat ich sie, ohne zu zögern. In der Bibliothek war die Luft stickig, und Staubkörnchen tanzten in den schmalen Sonnenstrahlen, die durch die dicken Vorhänge hineinfielen. Ich zog die Vorhänge auf und lüftete. Dann nahm ich die Kissen von meinem Schreibtischstuhl und setzte mich. Jetzt war der Stuhl wie für mich gemacht. Auf dem Tisch lag vergilbtes Briefpapier. Ich zog den Füller aus meiner Tasche und schrieb oben auf das Blatt:
Die Rückkehr der Jungfrau Maria.
Dann sah ich durch das Fenster, dass Margret herausgekommen war, um die Blumen zusammenzurechen, die ich am Morgen ausgerissen hatte. Ich blickte wieder auf das Blatt und schrieb:
Mein Großvater war ein angesehener Theologe an der Christus-Universität, bis er aus dem Amt entlassen wurde, weil man ihm vorwarf, Irrlehren zu verbreiten.
Und hier sitze ich nun mit dem Goldregenfüller in der Hand und schaue durch das offene Fenster hinaus und blättere durch die dicht beschriebenen Seiten. Vielleicht wirst du, Gott, der einzige Leser sein, ein Leser, der bis in alle Ewigkeit bei jedem Wort verweilt. Jetzt bläst eine frische Brise hinein, die Vorhänge bewegen sich, und die Blätter tanzen in der Luft. Die Madonnenlilien erstrecken sich vom Waldrand über die Wiese bis zum Fuß der Berge auf der anderen Seite des Tals. Margret sagt, dass der Garten wie durch ein Wunder blüht. Der Duft in der Luft kündigt an, dass es bald Abend wird, und lockt mich zu sich.
Informationen zum Autor
Bjarni Bjarnason, geboren 1965, hat mittlerweile zwölf Romane publiziert. Sein zweiter Roman
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