Die Rückkehr der Zehnten
aus der Vergangenheit zu. Mehrere Augenblicke brauchte das Gespenst um zu begreifen, dass die fuchtelnde Gestalt auf der Straße wirklich ihm zuwinkte und dass da jemand war, der es tatsächlich sah. Dann zuckte die Geliebte des venezianischen Kaufmanns zusammen, zog erschrocken die launisch geschwungenen Brauen hoch, verblasste zu einem Schatten und verlosch schließlich ganz.
Lis lachte und ging in einem großen Bogen zurück in Richtung Strand. Im Gehen nahm sie das Halstuch ab und stopfte es in die Hosentasche ihrer Jeans. Mit jedem Schritt, den sie in Richtung des Strandes ging, wurde sie aufgeregter.
Die ersten Strandbesucher hatten sich an diesem frühen Vormittag bereits eingefunden und rieben sich mit Sonnencreme die fischweißen Bäuche ein. Kinder planschten im Wasser, das noch klar und hoch von der Hut war. Langsam ging Lis den Strand ab, balancierte zwischen ausgebreiteten Handtüchern und Schwimmtieren, stolperte über Strandfelsen und angeschwemmte Äste, bis sie schließlich in der Mitte des Strandes angelangt war. Der Wind trieb die Wellen in Richtung Strunjan. Noch einmal suchte Lis in jedem Gesicht, aber nirgendwo sah sie einen Jungen mit dunklem Haar. Ein Anflug von Panik kribbelte über ihren Rücken.
Denk nach, Lis, befahl sie sich. Onkel Miran hatte erzählt, Matej sei ertrunken. Wenn sein neues Leben nach der Zeit in Antjana wieder im Meer begonnen hatte – dort, wo er vor mehr als zwei Jahren verschollen war, gab es nur zwei Möglichkeiten. Lis schluckte und kämpfte eine neue Welle von Panik nieder. Entweder er war jetzt wirklich ertrunken oder er war mit dem Westwind in Richtung Fiesa und Strunjan abgetrieben worden.
So gut es ging, begann sie auf dem steinigen Strand zu rennen. Schritt für Schritt arbeitete sie sich über die groben Steine vor, bis sie die Kirche und ein ganzes weiteres Stück Strand hinter sich gelassen hatte und von weitem schon die Muschelzuchtflöße in der Bucht von Strunjan erkennen konnte.
Er saß so nah am Wasser, dass die Wellen über seine Füße schwappten. Ruckartig blieb Lis stehen und atmete durch. Ihr Herz raste vor Erschöpfung und Erleichterung. Am liebsten hätte sie ihn gerufen, aber dazu war sie noch viel zu atemlos. Seitenstechen zwang sie dazu, kurz zu verschnaufen.
Mit dem Rücken zu ihr saß Matej Kalan regungslos da und starrte auf das Meer. Er trug eine rote Badehose. Bäche von Meerwasser flossen aus seinen Haaren. Er atmete heftig, als wäre er eine sehr lange Strecke gegen die Strömung geschwommen. Von Matejs Gesicht konnte Lis nur den Bogen seiner Wange erahnen. Noch hatte er sie nicht entdeckt, noch gehörte dieser Augenblick ihm ganz allein.
Eine magische Sekunde lang war alles wieder da – jedes Bild, das Poskur verbrannt hatte, erstand vor Lis’ Augen, jede Minute, die sie gemeinsam in Antjana verbracht hatten, jeder Blick, jedes Lächeln, jede Möglichkeit, die ihnen die Zukunft schenken würde – oder vielleicht nicht schenken würde.
Noch einmal holte Lis tief Luft, dann schickte sie ein heißes, übermütiges Danke an Nemeja und alle anderen Götter und ging zu ihm.
Weitere Kostenlose Bücher