Die Rückkehr der Zehnten
lachen, weil sie im selben Moment erkannten, dass vor der Tür kein Krieger und kein Priester stand, der sie bedrohte, sondern nur ihr Cousin Sascha. »Frühstüüüück!«, brüllte er. »Eure Mutter sagt, ihr sollt endlich aufstehen!«
»Ja!«, schrie Lis zurück. »Fünf Minuten, klar?«
Als sie sich aufrichtete und vom Bett springen wollte, hielt Levin sie am Arm zurück. »Lis, bevor du rausgehst und die anderen den Schock ihres Lebens kriegen, muss ich dir noch was sagen.« Er lächelte verschmitzt und deutete auf ihren Hals. »Dein Feuermal ist weg.«
Der umgekippte Stuhl lag hinter ihr im Spiegelbild. So schnell war sie aus dem Bett zur Kommode mit dem Spiegel gestürzt, dass sie ihn einfach umgerissen hatte. Ihr Schienbein bekam bereits einen blauen Fleck, doch Lis spürte das Pochen unter der Haut nicht, sie sah nur diese eine Stelle, die helle, hautfarbene Stelle an ihrem Hals, wo nichts mehr war. Einfach nichts! Eine erstaunte junge Frau mit zerzaustem Haar sah sie an, mit Seheraugen, die zu glühen schienen. Ein Kloß saß plötzlich in ihrem Hals fest. Sie war kurz davor zu weinen, als sie die makellose Haut betrachtete, wo früher das hässliche dunkelrote Mal geprangt hatte. Immer wieder wandte sie den Kopf hin und her, strich sich mit den Fingern über die glatte Haut, bis sie sich endlich zwang, sich von dem Anblick loszureißen. Widerwillig nahm sie eines ihrer Halstücher aus dem Schrank und verdeckte zum letzten Mal in ihrem Leben ihren Hals.
Das Frühstück kam ihr vor wie eine skurrile Wiederholung eines Films, den man als Kind gesehen und lustig gefunden hat und der nun, Jahre später, nur noch erstaunlich und auf seltsame Weise rührend ist. Wie gestern – oder für sie vor einem Monat – saß Sascha am Tisch und hampelte mit dem Eierlöffel herum, bis das Eigelb auf den Tisch tropfte. Tante Vida schenkte Kaffee aus einer Kupferkanne in winzige Tassen und versuchte gute Laune zu verbreiten. Onkel Miran war mufflig und schweigsam und hatte noch den Abdruck einer Kissenfalte im Gesicht. Auch Bojan saß heute dabei und streckte seine langen Beine lässig unter dem Tisch aus. In seinem Gesicht spiegelte sich die altbekannte Lässigkeit und ein Hauch von Verachtung für die Welt.
Trotzdem kam es Lis so vor, als würde sie ihre Verwandten zum ersten Mal sehen. Bojans Unsicherheit und seine Angst, für immer in dieser kleinen, altertümlichen Stadt hängen zu bleiben. Seine Sehnsucht nach einem eigenen Leben, nach Abenteuern und Reisen und gleichzeitig seine Verstrickung in allzu enge Familienbande. Tante Vida, die als Mädchen soviel getanzt hatte und deren Tanzschuhe schon lange im Keller eingemottet waren, weil es mit ihrem Mann nichts mehr zu tanzen gab. Onkel Miran, kurzsichtig, gutmütig und zufrieden – und doch mit der nagenden Ahnung, dass sein Leben nichts Besonderes war. Und schließlich ihre Mutter!
Unwillkürlich ließ Lis die Kaffeetasse sinken, als ihre Mutter das Wohnzimmer betrat. Müde sah sie aus, ihr helles Haar stand wie ein Sonnenkranz um ihren Kopf und fing das Morgenlicht ein. Sie lächelte und Lis sah ihre ganze Verzweiflung, ihre Schlaflosigkeit und ihr vergebliches Ringen um Harmonie. Sie war Lis und Levins Mutter, aber sie war auch Vlasta, die Ausgewanderte, die verlorene Tochter, die nicht glücklich geworden war.
»Papa hat heute Morgen schon angerufen«, sagte ihre Mutter mit betont munterer Stimme. »Vielleicht kommt er in der zweiten Woche hierher.«
Tante Vida lächelte wie eine Sphinx. Lis entging der Hochmut nicht, der tief unter ihrer Freundlichkeit lauerte, so tief, dass vermutlich nicht einmal Tante Vida ihn bemerkte. Fast schien es ihr, als könnte sie die Gedanken ihrer Tante lesen: Arme Vlasta – nun ja, ich habe kein Haus in München und Miran ist nur Hausverwalter, aber zumindest muss ich nicht die ganze Zeit heulen und mich herumstreiten.
Als Tante Vidas Blick dem von Lis begegnete, verschwand ihr Lächeln. Sie sah ihre Nichte erstaunt an und griff dann irritiert nach dem Zucker, als hätte Lis sie ertappt.
Die Eidechsenknochen, dachte Lis. Sie sind immer noch bei mir! Ein warmes Gefühl der Geborgenheit durchströmte sie. Mit einem Mal fühlte sie sich nicht mehr so fremd. »Ich gehe gleich ein bisschen raus – zum Markt«, meinte sie und trank ihren Kaffee aus. Bevor ihre Mutter etwas sagen konnte, war sie schon aufgestanden und trug ihre Tasse in die Küche.
»Bring mir einen Salat vom Markt mit!«, rief Tante Vida ihr
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