Die Sache mit dem Ich
des Tsunami zu beschreiben, der sich über dem indonesischen Sundagraben gebildet hatte und zehn Stunden später an Kenias Ostküste den letzten Toten holte, einen 18-jährigen Jungen, der zum ersten Mal am Meer war.
»Mietreporter« nennt sich Marc im Buch, das war er, und in dem Wort steckt der Vorwurf, der auf seiner Beerdigung immer wieder durch meinen Kopf zog. Haben wir, seine Auftraggeber im Spiegel, Stern, Tempo, BamS, Playboy, Vanity Fair und sonstwo, versäumt, ihm mehr zu geben als einen Auftrag, ein paar Druckseiten und immer zu wenig Geld? Ist wohl so.
Was einen guten Reporter ausmacht? Er ist, erstens, da, wo noch keiner war. Er erzählt, zweitens, eine Geschichte, die wirklich eine ist. Er erzählt sie, drittens, so, wie nur er sie erzählen kann. Und er schafft es, viertens, das, was er gesehen und gedacht hat, so zu erzählen, dass Beobachtungen zu Gedanken gefrieren, die mich verfolgen. Jede Marc-Fischer-Reportage ist so, und jede ist so, dass ich sie erkennen würde, wenn sie mir ohne Autorenzeile in die Hände fiele.
Im letzten Text dieses Buches lässt Marc tief blicken in die Fischerwelt, es ist eine Safari durch seine Seele, ein letzter Blick in einen – wie ich entdecke – unbekannten Menschen, der mich – und viele andere – erst nach seinem Tod an sich heranlässt.
Es ist eine schöne Idee, sich seine eigene Seele als Kontinent vorzustellen, in dem Ernest Hemingway Stammgast ist in einer Hütte an der Küste, in dem Leonard Cohen lebt, auch Jean Seberg, Christy Turlington und Rita Hayworth herumliegen. Zwischen diesen Toten – auf seinem Kontinent, in seinem Kopf – spazierte Marc herum, redete und war glücklicher mit ihnen als mit den Lebenden um ihn herum.
Es riecht nach Zimt in diesem Egoland, und es sei ihm, so schreibt Marc, immer schwergefallen, von seiner Innenwelt in die Außenwelt zurückzukehren, mit traurigem Gesicht und so leerem Blick, dass seine Freunde ihn anstarrten, als sei er in seinem Kopf nicht mehr zu Hause.
Wenn man Marcs Buch liest, wird man neidisch auf sein Leben. Es fliegt glitzernd und glamourös vorbei, allein der so leicht beschriebene Nachmittag mit Kate Moss in einem Pariser Hotel hat gereicht, um mir die Frage zu stellen, ob ich vielleicht im falschen Leben zu Hause bin.
Am ersten freien Wochenende seit Monaten lese ich sein Buch, vorher wochenlang damit beschäftigt, tief in die Finanzwelt einzudringen, nun mit der Frage konfrontiert, ob Kate Moss nicht vielleicht besser zu mir passen würde als der Chef der Bundesfinanzdienstleistungsaufsicht.
Ich fange an, meinen Kontinent zu besiedeln, nachzudenken darüber, wen ich einreisen lassen würde, ob meine Mutter dort was zu suchen hätte. Ich weine ein wenig, diesmal mehr um Marc als um meine Mutter, ein so feiner Reporter, ein so talentierter Mensch. Er ist tot, ich lebe; mal sehen, was ich daraus mache.
Cordt Schnibben
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Wie ich Yes Man wurde
Ausschlafen und ein vernünftiges Frühstück – zwei der Dinge, die du vergessen kannst, wenn du Polit-Aktivist werden willst. Bisschen Zeit mitbringen kommt auch gut, Aktivisten sind nicht immer pünktlich. Aber wer bin ich, mich zu beschweren? Che Guevara rannte mit Asthma und Malaria durch den Dschungel, bevor er das geknechtete kubanische Volk befreite.
Es ist vier Uhr morgens, sehr dunkel noch, ich stehe am Columbus Circle in New York, Ecke Broadway und 60. Straße, und warte auf die anderen. Das Problem: Weder weiß ich, wer die anderen sind, noch was wir vorhaben. Aufstand, Umsturz, Revolution? In der letzten E-Mail, die vor ein paar Stunden ankam, stand nur, ich solle mich bereit machen für:
etwas sehr Großes
etwas sehr Besonderes
etwas sehr Lustiges
etwas sehr Ernsthaftes.
Absender der Mail waren die Yes Men.
Die Yes Men sind ein Aktivistenduo aus New York, das in den letzten Jahren vor allem dadurch bekannt wurde, unter falschen Namen auf Handelskonferenzen aufzutauchen und dort im Namen großer Konzerne oder Organisationen, die sie als ausbeuterisch beurteilen, die unglaublichsten Vorträge zu halten. Die Yes Men richten PR – Katastrophen an, indem sie das Verhalten der Konzerne ins Fratzenhafte verzerren – oder ihnen mehr Selbsterkenntnis unterstellen, als ihnen lieb ist: Als »offizielle Vertreter« der Welthandelsorganisation WTO kündigten sie auf einer Konferenz in Sydney deren Auflösung an (»Weil wir erkannt haben, dass unser System ungerecht ist und nur den Interessen multinationaler Firmen dient«); in Salzburg
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