Die Schicksalsleserin
würden nicht obsiegen. All die tapferen Kämpfer hatten ihr Leben vor Wien umsonst gegeben.
Was sollte er nun tun? Den Schwanz einziehen und feige fortlaufen, wie ein Hund oder ein Akindschi es vielleicht täte? Mehmed griff den Säbel fester. Er sandte der Geliebten, die irgendwo jenseits von Sankt Peters hohem Turm warten musste, einen stummen Gruß. Dann warf der Corbashi sich in die Schlacht, wohl wissend, dass es seine letzte sein würde.
Der Mittag mit dem höchsten Stand der Sonne war gekommen. Christoph Zedlitz von Gersdorff wusste, dass die morgendlichen Sprengungen das Zeichen für den letzten Sturm gewesen waren, der Janitscharen und Reiter in die alles entscheidende Schlacht werfen würde. Auch am Nachmittag hatte es weitere Explosionen gegeben, doch im Vergleich zu denen vorher hatten sie eher klein geklungen.
Als die Sonne dann den Kreis gen Westen beschrieb und
die Schatten länger wurden, kam wieder Leben in das Lager. Christoph brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass dies nicht die Heimkehr einer siegreichen Armee war. Dies war die Rückkehr von Männern, die zum vierten Mal in Folge gekämpft hatten und geschlagen worden waren.
Der Bannerträger fühlte ein merkwürdig widersprüchliches Ziehen in der Brust. Einerseits freute er sich für Graf zu Hardegg und all die Mannen, die Wien erfolgreich verteidigt und schließlich gesiegt hatten. Auf der anderen Seite fühlte er mit Sultan Süleyman. Er musste nun ohne den erhofften Sieg nach Hause zurückkehren.
An diesem Abend lud Süleyman Christoph zu einem sehr spät anberaumten Nachtmahl ein. Der Bannerträger war der Einladung nur zu begierig gefolgt - er wollte wissen, was auf dem Schlachtfeld geschehen war. Und bislang hatte der Sultan ihm immer gerne Einsichten in das Kriegsgeschehen gewährt.
»Was werdet Ihr nun tun, da Ihr verloren habt?«, fragte Christoph den Sultan. Sie standen einander inzwischen so nah, dass er es wagte, so mit ihm zu sprechen. Eine üppig beladene Tafel voll Datteln, Wein, Hühnerschenkeln und anderen Köstlichkeiten trennte sie, erhellt von zwei kostbaren Öllampen. Zwei Frauen knieten rechts und links daneben, um ihnen auf den kleinsten Wink Speisen und Getränke anzureichen.
»Ich habe doch nicht verloren«, gab Süleyman, der entspannt auf seinen Kissen lag und den Wein genoss, mit funkelndem Blick zurück. »Ich habe das Reich meiner Väter so weit ausgedehnt wie kein Herrscher vor mir. Ganz Ungarn liegt mir zu Füßen. Ich wollte Kaiser Karl oder König Ferdinand herausfordern - doch sie haben sich mir nicht gestellt. Ich werde als Held nach Konstantinopel zurückkehren.«
Christoph schüttelte ungläubig den Kopf, mit den Gedanken noch immer bei der Schlacht. »Wie konnte es sein, dass Wien
vier Stürme einer so überlegenen Armee abgewiesen hat?«, fragte er. »Die Mauern sind alt, und Ihr habt fast zehnmal so viele Männer mitgebracht.«
»Ibrahim Pascha sagt, dass ein Krieg nicht auf dem Schlachtfeld gewonnen wird, sondern in der Organisation seines Nachschubs«, erwiderte der Sultan. »Wir haben die großen Kanonen auf dem Marsch zurückgelassen, weil der Regen die Straßen aufgeweicht hat. Die Soldaten hatten zu wenig zu essen, sind krank geworden und haben gefroren. Der Winter ist früh dieses Jahr eingefallen. Wäre der Sommer weniger regenreich gewesen, gehörte Wien jetzt mir.«
Der Gedanke, dass das Schicksal einer Stadt, ja eines Reiches, von solchen Faktoren abhing, war beinahe absurd. »Darf ich Euch noch eine Frage stellen?«
»Natürlich darfst du, Christoph, mein Freund. Frag nur!«
»Warum?« Christoph hatte in den vergangenen Tagen ausreichend Gelegenheit gehabt, über die Beweggründe des Osmanen nachzudenken. Aber er hatte keine Antwort gefunden. »Warum seid Ihr auf Wien gezogen? Warum sich nicht mit Ungarn zufriedengeben, sondern das Reich angreifen?«
»Wie - warum?« Der Herrscher kräuselte verwirrt die Stirn. Er schien die Frage nicht zu verstehen.
»Kämpft Ihr gegen uns, um das Christentum zu vernichten? Oder um Euer Reich auszudehnen? Um den Kaiser herauszufordern oder weil Ihr die Gelegenheit saht weiterzuziehen, als Ihr Ungarn schon einmal niedergeworfen hattet?«
»Aus all diesen Gründen«, gab der Sultan lächelnd zurück. Eine der Sklavinnen sah auf, und Süleyman erteilte ihr mit einem Nicken die Erlaubnis zu sprechen. Dann übersetzte er selbst, was sie sagte. »Was der Huf des Pferdes des Padischahs berührt, ist ihm zu eigen.«
Christoph starrte den
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