Die Schicksalsleserin
scheitern.«
Elisabeth von Schaunburg wurde leichenblass, die Freude wich von ihren Zügen. Sie drehte sich starr wie eine Puppe zurück zum Fenster und sah hinaus. Madelin trat daneben und folgte ihrem Blick. Draußen krachten nun hauptsächlich Arkebusen, und das Geschrei deutete an, dass die Janitscharen versuchten, die Bresche in der Mauer zu stürmen.
Madelin blickte hinaus, nach Süden, und fröstelte. Die Mittagssonne stand dort und blendete sie mit klarem Schein. Kein Wölkchen war am Himmel zu sehen. Sie sandte Lucas einen stummen Gruß, wo auch immer er gerade sein mochte. Sie wusste, dass ihre Mutter neben ihr ähnliche Gedanken hatte. Die Vorstellung, dass unter den Männern, die da draußen vielleicht in den Tod gingen, ihr Vater war, kam ihr erst jetzt. Wenn er heute starb, hatte sie ihn kaum gekannt. Er schien ein aufrechter Mann zu sein, und das heilte eine tiefe Wunde in ihr.
Madelin fühlte sich der Mutter in diesem einen Augenblick merkwürdig verbunden. Beide wussten sie dort draußen einen geliebten Mann, der sein Leben für den Kampf wagte, an den er glaubte. Beide wussten sie nicht, ob dieser Mann lebte oder tot war. Für sie beide würde jeder Augenblick, der verging, bis sie Gewissheit erlangten, so lang währen wie ein Jahr. Und beide konnten sie nur beten.
»Geh«, sprach Elisabeth von Schaunburg. Ihre Stimme klang hart und grimmig.
»Mutter, ich …«
»Geh!«, wiederholte sie. »Geh, und kehre nie wieder in dieses Haus zurück.«
Madelin schluckte eine Antwort hinunter und nickte. Sie sah die Mutter nicht an, als sie ging. Doch bevor sie der Treppe hinunter ins Erdgeschoss folgte, flüsterte sie noch: »Ich wünsche Euch trotz allem, dass er am Leben ist.« Sie erhielt keine Antwort. Madelin sandte einen letzten freudigen Blick zur Kammer hinüber, in der Anna und die Kinder lagen. Dann schritt sie die Treppe hinunter.
Unten stand der Mann mit dem grauen Mantel, unter dem die schlohweißen Haare hervorlugten. Der süßliche Gestank schlug ihr entgegen und stellte ihr die Haare zu Berge. Doch sie wich ihm nicht aus, sondern blieb vor ihm stehen.
Vorsichtig hob Madelin eine Hand und zog ihm die Kapuze vom Kopf. Sie blickte in das faltige, wulstige, zerstörte Gesicht. Mit viel gutem Willen erkannte sie darin den Mann, der vor sechs Jahren in dieses Haus gekommen war. Der Aussatz hatte ihn so entstellt, dass man ihn für einen Greis halten musste, obwohl er doch nicht mehr als dreißig Jahre zählen konnte. »Bekommt man die Lepra nicht, wenn man im selben Haus mit dir wohnt, Ludo?«, fragte sie leise.
Er starrte sie an. Die Augen schienen das einzig wirklich
Menschliche an ihm geblieben zu sein. »Ich fasse nichts an. Ich schlafe und esse im Schuppen. Deine Mutter hat mich in ihrer Gnade nicht verjagt und ist bislang verschont geblieben.« Seine pfeifende Stimme ließ ihr einen kalten Schauer den Rücken hinablaufen.
»Hat sie denn keine Furcht?«, fragte sie erstaunt.
»Sie sagt, es ist Gottes Entscheidung, ob sie krank wird oder nicht. Hast du keine Furcht? Immerhin stehst du hier vor mir.«
»Du warst mir schon näher«, sagte Madelin. »Wenn ich erkranken soll, dann ist es wohl schon zu spät. Wie hast du es bekommen?«
»Ich weiß es nicht«, stieß er heftig aus. »Irgendwann fühlt man seine Zehen nicht mehr oder die Fingerspitzen. Die Haut fängt an, sich zu verändern. Und bald sieht man aus wie ein Ungeheuer.«
Die Wahrsagerin musterte ihn überrascht. In seinen Augen stand eine dumpfe Wut, die ihr vertraut war - sie hatte sie bei Franziskus gesehen. Bei dem Freund war sie irgendwann der Hoffnungslosigkeit gewichen, die ihr beinahe noch mehr Angst gemacht hatte, denn Wut bedeutete immerhin, dass man mit seinem Schicksal haderte.
Doch als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass das Glitzern in Ludos Blick ein anderes als bei Franziskus war. Der Aussätzige hatte sich die Wut bewahrt, die in ihm schlummerte, und das anscheinend seit Jahren. Befähigte sie ihn zu all diesen schrecklichen Dingen? War sie der Quell seiner Brutalität? Madelin fühlte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen bildete, als sie in seine Augen sah. Eben hatte sie noch gedacht, sie seien das Menschlichste an ihm. Doch jetzt wusste sie, dass sie sich geirrt hatte. Die Krankheit hatte ihn nicht nur äußerlich verzehrt.
»Geh mir aus dem Weg.« Ihre Stimme war ganz ruhig. Sie fürchtete diesen Mann nicht mehr, doch sie wollte ihn nie wiedersehen.
Er stierte noch einen Augenblick auf sie
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