Die Schicksalsleserin
Grün des Frühlings hinunter, das an den Bäumen spross, und die breit angeschwollenen Flüsse Donau und Wien. »Keine Katastrophe kann die Erde so schlimm verbrennen, dass nicht irgendwann wieder etwas darauf wächst.«
Sie schwiegen eine Weile und hörten dem Zwitschern der Vögel auf dem Kirchendach zu. »Madelin«, begann Lucas mit belegter Stimme, »ich weiß, dass du weiterziehen willst. Ich will dich nicht aufhalten.«
Sie sah ihn von unten herauf an, ihr Herz sank. »Du willst nicht, dass ich bleibe?«, fragte sie ungläubig.
»Doch«, sagte Lucas schnell. »Ich will, dass du bleibst. Ich will für immer mit dir zusammen sein und mich nie wieder von dir trennen.« Er nahm ihre Hand. »Aber nicht, wenn du dafür deine Freiheit aufgeben musst. Ich weiß, was sie dir bedeutet.«
Madelin sah ihn an, studierte sein Gesicht und versuchte in einer inzwischen altvertrauten Geste sein unbezwingbares Haar zu ordnen. Dann lächelte sie. »Sie bedeutet mir viel«, stimmte sie zu. »Und vielleicht werde ich irgendwann wieder fortziehen wollen. Aber nicht jetzt.«
Lucas legte seine Arme um sie und zog sie über den Dächern von Wien an sich heran. »Vielleicht bleibst du noch ein Weilchen«, murmelte er. »So lange bis ich mein Studium beendet habe. Aber was machen wir dann?«
Madelin antwortete nicht. Sie zog ihr Trionfi aus der Gürteltasche und schloss die Augen. Als sie eine Karte zog, ließ sie sich innerlich fallen, wie sie es früher immer getan hatte. Atemlos suchte sie die Tür zu der Kammer in ihrem Geiste, die ihr so lange verwehrt geblieben war. Sie fand sie mühelos und öffnete sie. Einen Augenblick später hatte sie die Kerze darin entzündet und sonnte sich an dem Licht, das sie ausstrahlte. Sie öffnete die Augen und blickte neugierig auf. Es war die Ausgeglichenheit, eine Frau, die mit einem Bein auf dem Land und mit dem anderen im Wasser stand, dabei Wasser von einem Kelch in den anderen gießend. Dies war schon als Kind Madelins Lieblingskarte gewesen, und jetzt verstand sie auch, was sie bedeuten mochte. Sie war eine Frau zweier Welten. Die Wahrsagerin lächelte und schob die Karte zurück in den Stapel.
»Das werden wir dann sehen«, sprach sie und küsste ihn.
»Und, ist Wien so schlimm, wie du es in Erinnerung hattest?«, fragte er, als sie sich schließlich wieder voneinander lösten.
Nachdenklich sah sie hinunter auf die Dächer. »Nein«, erwiderte sie. »Trotz allem, was geschehen ist, war Wien gut zu mir.«
Lucas fasste ihre Hand und führte sie an seine Lippen. Sein Lächeln vertrieb auch die letzten Schatten des Winters in ihrem Herzen. »Ja«, sagte er. »Zu mir auch.«
DANK
M it Dank an Martin Pletersek, Stoffl der Aggsbacher und Eva Steigberger für das herzliche Willkommen in Wien, an Lisa Köper für medizinisches Wissen, Markus Androsch für Detailhinweise im historischen Wien, Erkan Yilmaz für eine Sichtung der kulturellen Feinheiten, Heiko Buchholz für sein scharfes Auge, das Wiener Stadtarchiv für freundliche Unterstützung sowie an Herrn Poller vom Pollerhof, der mir gezeigt hat, was Erdställe sind.
Originalausgabe 09/2010
Copyright © 2010 by Lena Falkenhagen
Copyright © 2010 by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Eva Philippon
Copyright Karte Wien © Daniel Jödemann
eISBN 978-3-641-05885-2
Satz: Leingärtner, Nabburg
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