Die Schockwelle: Thriller (German Edition)
dem Tod bestraft, aber in der Praxis befanden sich Russen, die für den Westen spionierten, noch immer in Lebensgefahr.
Plötzlich bremste das Fahrzeug, und vor den Milchglasscheiben wurde es dunkel.
»Tempo!«, rief der Brite, zog eine Lederjacke an und warf Tarasov ein blaues Hemd hin.
Die Hecktür ging auf, und Tarasov stieg mit wackligen Knien aus, wobei er sich mit einer Hand das Hemd zuknöpfte. In der anderen Hand hielt er sein Sakko. Er stand in einer düsteren Gasse zwischen zwei Häusern. Die Hecktür wurde zugeschlagen, und der Krankenwagen fuhr los, während Tarasov dasSakko anzog und sich auf den Rücksitz des Lexus fallen ließ, der gerade herangefahren war. Noch bevor er die Tür richtig zugezogen hatte, setzte sich das Auto im Rückwärtsgang in Bewegung.
»Good to see you, Aleksej« , begrüßte ihn der Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes SIS. »And goodbye« , schloss er, während er Tarasov eine flexible, hautfarbene Latexfolie übers Gesicht zog. Sie fühlte sich unangenehm an, so als würde einem mit Gewalt ein kaputter Luftballon über den Kopf gespannt. Das Auto bog von der Nebenstraße in die Petrovskaja ein und schloss sich mit heftiger Beschleunigung dem Verkehrsstrom an.
Tarasov war angewiesen worden, in einer Notsituation nur die sicherste Form der Kommunikation zu wählen, die kontaktlose Methode. Keine Treffen, keine Telefonate, keine E-Mails, keine SMS. Als die Anzeichen von Gefahr überdeutlich geworden waren, war er am vereinbarten Wochentag zur festgesetzten Zeit an den angegebenen Ort gekommen: Donnerstag 19.30 Uhr, Ecke Nikolskaja und Tretjakowsk, in einer bestimmten Jacke und mit einer Plastiktüte des Kaufhauses Stockmann in der Hand. Die britischen Beamten hatten das Notsignal im Vorbeifahren erkannt. Es war die gleiche Methode wie in den Jahren des Kalten Krieges. In der Welt der Geheimdienste war vieles wieder so wie früher.
Tarasov setzte eine Brille auf und blickte in einen kleinen Schminkspiegel. Nun sah er genau so aus wie auf dem Foto in seinem britischen Pass.
Langsam löste sich die Anspannung, die er seit Tagen verspürt hatte, und er merkte, dass er rührselig wurde. Diese Profis hier waren bereit, alles zu tun, um sein Leben zu retten. Das war ein seltsames Gefühl in einem Land, in dem ein einzelnes Menschenleben für die Machthaber keinen Wert besaß.
Tarasov holte tief Luft. Er wusste, dass der für ihn zuständige Offizier Verständnis für seinen Gemütszustand hatte.
»Alles wird gut gehen«, sagte der Mann denn auch. »Tut mir leid, dass du diese ganze Prozedur durchstehen musstest, aber du wirst sehen, es wird klappen. Alles ist sorgfältig geplant.«
Die Frage war nur, ob das am Ende ausreichte. Die Enttarnung eines Agenten war der schlimmste Albtraum der Geheimdienste. Danach konnte man nur noch versuchen, den Betroffenen so rasch wie möglich aus dem Land zu schleusen. Der Agent musste in Sicherheit gebracht werden, aber im schlimmsten Fall waren die Grenzbehörden zu dem Zeitpunkt bereits alarmiert. In Tarasovs Fall – wie zuvor auch bei Oleg Gordijewski und Wassili Mitrochin – war Großbritannien bereit, bis zum Äußersten zu gehen.
Leider waren auch die Russen dazu entschlossen, denn Tarasov hatte Zugang zum Allerheiligsten des russischen Auslandsgeheimdienstes gehabt, zu den Codenamen der angeworbenen Ausländer. Würde es ihm gelingen, sich abzusetzen, wäre das eine der schlimmsten Niederlagen in der Geschichte des sowjetischen und russischen Geheimdienstes – vom gleichen Kaliber wie die Überführung des CIA-Angestellten Aldrich Ames als Spion in Diensten Moskaus.
2
Vera Dobrina blickte sich intuitiv um, als sie mit einer Plastiktüte in der Hand aus dem K-Extra-Supermarkt im Helsinkier Stadtteil Kallio auf die Straße trat. Es war bewölkt, die Dämmerung setzte bereits ein, aber noch immer waren die Hitze und die Feuchtigkeit des Tages zu spüren. Obwohl der Sommer seinem Ende zuging, war es für finnische Verhältnisse außergewöhnlich warm. Vera blieb stehen, schloss die Augen und ließ die ersten leichten Regentropfen auf ihr Gesicht fallen. Genau das tat ihr gut: frei atmen, die kleinen Momente des Lebens genießen und unbehelligt durch die Stadt gehen, ohne die Menschenmassen ringsum als Bedrohung zu empfinden.
Dennoch verspürte sie bereits Heimweh nach Moskau – nach dem Stimmengewirr in der Redaktion, sogar nach dem Gedränge in der U-Bahn-Station. Der Mensch ist kein rationales Wesen.
Vera war bereits ein
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