Die schwarze Schatulle
niemand anderen sieht.
2. Kapitel
Ich stieg an der Endstation aus und schaute den Hügel hinauf. Der Hund fiel mir ein. Nicht dass ich Angst hätte vor Hunden, im Gegenteil, aber Benjis Hund ist groß und schwarz und bellt fürchterlich. Er ist auch böse. Benji hat mich gewarnt, den Hof zu betreten, wenn der Hund nicht an der Kette ist. Es ist ein rassereiner Rottweiler. Benjis Vater hat ihn gegen Einbrecher angeschafft. Rottweiler sind sogar für ihre eigenen Besitzer gefährlich, das ist bekannt, auch dass sie fremde Kinder anfallen, sogar wenn sie sie schon ein paar Mal gerochen haben. Ich überlegte, was ich tun sollte, wenn der Hund nicht an der Kette lag. Und vielleicht war Benji gar nicht zu Hause? Vielleicht war er woandershin geflohen?
Aber Benji hatte keinen anderen Ort. Die einzigen Plätze, wo er hingeht, sind die, zu denen ich ihn manchmal mitnehme, zum Basketballplatz oder zu mir nach Hause. Er hat überhaupt keine Freunde.
Die Erziehungsberaterin hat mir erklärt, dass er Schwierigkeiten hat, sich in Israel einzugewöhnen. Meiner Meinung nach sind über zwei Jahre aber genügend Zeit, um sich irgendwo einzuleben. Ich glaube, Benji will einfach nicht. Er ist noch immer sauer auf seine Eltern, die sich für eine Einwanderung nach Israel entschieden haben, ohne ihn zu fragen. Auch wenn ein Kind erst sechs ist, so wie er damals, muss man es fragen, ob es einverstanden ist, hat er mir mal erklärt.
Benji und ich, wir sind beide Nachzügler. Deshalb wollte die Erziehungsberaterin auch, dass ich sein Tutor werde. Er hat zwei ältere Brüder in den Vereinigten Staaten, nach denen er große Sehnsucht hat, und ich habe auch zwei große Geschwister, die schon nicht mehr zu Hause sind. Aber bei uns ist es ganz anders, meine Geschwister kommen oft zu Besuch, und jeden Freitagabend, wenn der Schabbat beginnt, treffen sich alle zu einem gemeinsamen Essen. Unsere Wohnung ist nie leer. Manchmal wünschte ich mir so sehr, dass sie es wäre. Aber immer ist irgendjemand da.
Benjis Haus sieht immer leer aus. Benji hat ein ganzes Stockwerk für sich, und jedes Mal, wenn ich auf das Haus zugehe, wundere ich mich darüber, dass drei Personen so allein in drei Stockwerken wohnen. Benjis Zimmer ist im ersten Stock, darüber wohnt seine Mutter. Sie hat ein besonderes Arbeitszimmer. Im Erdgeschoss wohnt Benjis Vater, der aber fast nie zu Hause ist. Benji hat einen eigenen Fernseher in seinem Zimmer, auch ein amerikanisches Videogerät. Manchmal schauen wir uns zusammen einen Film an, nachdem ich ihm bei den Hausaufgaben geholfen habe. Bevor sie nach Israel gekommen sind, haben sie in Los Angeles gewohnt, in Hollywood, und als Benji mir davon erzählt hat, habe ich ihm nicht geglaubt, dass es tatsächlich so ein Viertel gibt und dass da wirklich Menschen wohnen, nicht bloß im Film. Aber er hat mir in seinem Fotoalbum Bilder gezeigt, die es beweisen.
Benjis Mutter ist Malerin, sie malt Bilder mit Ölfarben, nicht mit Buntstiften, so wie ich. Sie malt auf große Leinwände und klebt auch noch alle möglichen Sachen drauf. Einmal hat mir Benji ihre Bilder gezeigt, als sie nicht zu Hause war. In ihrem Stockwerk stand eine riesige Leinwand mit einer nackten Frau zwischen Felsen. Die Frau hatte große, rote Lippen und schwarze, wilde Haare, und auf dem Felsen saß eine riesige Eidechse mit erhobenem Kopf. Das Gesicht der Frau erschreckte mich, ich verstand einfach nicht, dass Benji nicht merkte, wie erschreckend die Frau aussah. Nicht dass sie ausgesehen hätte wie Benjis Mutter, aber irgendwas war da, das mich an sie erinnerte, vielleicht die Form ihres Gesichts oder die Augen.
Ich habe Benjis Mutter erst ein paar Mal gesehen, obwohl ich doch so oft dort bin. Sie kommt nicht herunter und stört nie. Ich sage es nicht zu Benji, aber ich denke, er hat es wirklich gut, weil er zu Hause machen kann, was er will. Niemand meckert an ihm herum, dass er endlich essen oder das Geschirr spülen, oder auf seine Nichten aufpassen soll. Er kann den ganzen Tag fernsehen, von morgens bis in die Nacht, ohne dass ihm jemand was sagt. Er nimmt sich sogar selbst was zu essen und isst, worauf er Lust hat und wann er Lust hat. Er isst seltsame Sachen wie Weißbrot mit Honig und Oliven. Solche Sachen eben. Er kann sich sogar selbst per Telefon Hamburger bestellen, ohne zu fragen. Und zum Bezahlen kann er Geld von dem Platz nehmen, wo sie es aufheben, oder aus der Handtasche seiner Mutter. Er geht dann leise hinauf, und auch wenn er auf Englisch
Weitere Kostenlose Bücher