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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Iuga
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zu schauen, auch jetzt noch. Manchmal zeigt dir der Spiegel morgens das eine, manchmal ein anderes Gesicht. Das nimmt Einfluss auf den Tag. Man handelt in Abhängigkeit von der Miene, die einem der Spiegel zeigt. Siehst du, wie sehr die Lüge beginnt, der Wahrheit zu gleichen.
    Anna liebte es immer, sich zu verkleiden. Sie konnte der heftigen Verlockung, ihre Identität zu wechseln, nicht widerstehen. An den Menschen vorbeizugehen, ohne erkannt zu werden. Es gibt keine größere Freiheit, als die, sich dem Bewusstsein der anderen zu entziehen. Ich war noch Studentin, als ich meine Lust an der Verkleidung entdeckte. Ich hatteeine braune Stoffhose, sie war aus einem alten Anzug meines Vaters geschneidert; dazu zog ich eins seiner Hemden an, band mir das Haar unter einer weißen Mütze zusammen, die meine Stirn bedeckte, und malte mir mit einem verkohlten Streichholzende den Schatten eines Schnurrbarts, an den Füßen trug ich Turnschuhe. Wenn es an späten Sommerabenden zu dämmern begann, brach ich von zu Hause auf, stieg in die Straßenbahn, sah den anderen Passagieren aufdringlich in die Augen, um dort eine flüchtige Ahnung zu erhaschen, manche von ihnen kannte ich, aber alles war perfekt. Ich war irgendein Junge, allen Blicken entkommen, allen Gedanken, allen Erinnerungen. Am Izvor stieg ich aus, bog in den Bulevard Elisabeta Richtung Militärpalast ein, vorbei an den Kinos, ließ mich vom Strom der Soldaten, Dienstmädchen und Schüler mitreißen, die sich alle auf dem schmalen Trottoir drängten, um sich jemanden zu angeln; und ich war nicht mehr als ein kleines Partikel in dieser formlosen, anonymen Masse, ich existierte für niemanden mehr, ich war frei. Anna erwartet eine Reaktion, sie nimmt ihren Ring ab, steckt ihn wieder an, spielt auf beinah frivole Weise damit, man sieht ihr an, sie ist gereizt. Wie funktionstüchtig ist mein Gehirn bei der Suche nach neuen Sendekanälen? Und wie viele gleichzeitige Verbindungen bekommt es pro Sekunde hin … er sieht nichts. Ich habe irgendwo gelesen, was einen mittelmäßigen Verstand auszeichnet, sei sein Unvermögen, Ausnahmen zu erkennen; siehst du, seit ich durch Europa reise, bin ich eitel geworden. Wenn ich zurückdenke, hatte dieses Leben, in dem wir die Nächte mit verzweifelten Festen verbrachten, sei es in den eigenen Betonwänden an der Bukarester Peripherie oderim Lokal des Schriftstellerverbandes, im Grunde genommen etwas von den Rattenlöchern, in denen ununterbrochen gequietscht und sich vermehrt wurde. Wir trafen uns mal bei dem einen, mal bei dem anderen, feierten bis zum Morgen, tranken Wodka, erzählten uns Radio-Eriwan-Witze, die wir auf »Cântarea României« gemünzt hatten – schon deshalb ziehe ich es vor, über meine Angreifer zu lachen; nähme ich sie ernst, würde ich mich selbst diskreditieren – und wir tanzten. Bei Paul war es am schönsten, seine Frau Sara machte köstlichen israelischen Blätterteigkuchen. Inzwischen ist Paul der größte »Antisemit«, und wer ihn in einer Zeitschrift veröffentlicht, riskiert, aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen zu werden. Wenn wir nicht einmal den Punkt ausmachen können, an dem die Donau entspringt, oder die Grenzlinie, an der ein Fluss zum Meer wird, worüber urteilen wir hier dann eigentlich? Virgil gab die Nummer mit Nijinski und Marius zum Besten, der Terry das Gedicht Blaue Pelerine gewidmet hatte, ein großartiges Poem, er zog ihr den Stöckelschuh vom Fuß – eine Laufmasche in ihrem schwarzen Strumpf zog sich schmeichelhaft über den Knöchel, es wirkte sehr sinnlich –, dann goss er sein Wodkaglas hinein und trank, er spielte diese Szene aus einem russischen Film mit zaristischen Offizieren nach, purer Kitsch. Dimi drehte den Plattenspieler auf volle Lautstärke, er war sichtbar irritiert. Marius wurde später mit einem französischen Visum unter dem Kopf aufgefunden, er war tot. Mit dreiundvierzig Jahren. Der grüne Blick verharrt still auf ihren Augen, wie an der Ampel, er wartet, dass die Farbe umspringt. Und plötzlich nähert sich seine Hand der meinen … jetzt, jetzt. Sein Daumen an meinen gepresst … jetzt.Er steht auf, endlich, die Bewegung scheint gar nicht mehr enden zu wollen. Ein so langer Körper braucht Zeit, um sich zu voller Größe aufzurichten … jetzt wird er sie mit Gewalt nehmen, er wird sie an beiden Armen packen, wie man eine alte Mastsau anhebt, die grunzt und zappelt, er wird sie aufs Bett werfen. Sie schließt die Augen … Sie hört, wie die

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