Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
es bereits, die Kirche ist ein erotischer Ort, vielleicht trage ich romantische Reminiszenzen in mir, es war wie in der Kartause von Parma. Wir brachen gemeinsam auf, gingen hinunter Richtung Ştirbei Vodă bis zur Medizinischen Fakultät und gelangten ins Cotroceni-Viertel mit seinen von Efeu überwucherten Villen und seinen Apfelbäumen voll blasser, rosafarbener, duftender Blüten. Alles war schön, wie auf einem Korridorgemälde. Du merkst, ich habe große Angst, sentimental zu werden. Diese moderne Haltung, die einen keine Gefühle mehr aussprechen lässt, den kritischen Geist anspitzt, da wird man immer gleich ironisch. Wir werden immer mehr zu Rechenmaschinen, finde ich. Ich erinnere mich nicht mehr, ich glaube, wir küssten uns einige Male auf diesem Weg, ich weiß es nicht mehr genau, nicht das war das Wichtigste, sondern diese beunruhigendeFrühlingsnacht. Ich weiß noch, dass er plötzlich stehen blieb und mich bat, ohne ihn weiterzugehen, er wolle sich für einen Moment entschuldigen und mir dann nachkommen. Ich dachte, er würde neben einem Baum oder in einer Einfahrt stehenbleiben und das tun, was alle Männer verrichten, wenn es nun einmal sein muss. Ich habe die schreckliche Gewohnheit, mir alles nicht Anwesende vorzustellen, ich sah ihn vor mir, er öffnete seine Hose, holte sein Glied heraus und ließ einen dünnen, hellen und regenbogenartig gekrümmten Strahl auf einen Baum oder einen zersplitterten Zaun treffen. Im Gegensatz zu allen anderen Menschen konnte ich mir bei ihm nicht einmal seine physischen Verrichtungen als etwas Hässliches vorstellen. Vielleicht war er ein Engel. Vielleicht war er geschlechtslos, aber gerade das fand ich so anziehend an ihm. Ich ging eine Weile allein weiter, über eine Viertelstunde war verstrichen, als ich ihn hinter mir herschleichen hörte. Er flüsterte, dreh dich nicht um, ich werde verfolgt. Dann schwiegen wir lange Zeit. Ich fragte ihn nichts, er nannte mir keine Einzelheiten. Wie gewohnt nahmen wir Abschied, ohne uns zu verabreden. Nach einer Woche suchte ich ihn im Hasdeu-Hörsaal, wo er bei Vianu seine Prüfungen in internationaler Literatur ablegen musste. Er war nicht da, seine Kommilitonen sagten, er sei auch zu den beiden anderen Prüfungen nicht erschienen. Niemand wusste, was mit ihm war. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging zu ihm nach Hause. Seine Mutter teilte mir schluchzend mit, er sei abgeführt worden, und man habe das Haus durchsucht. Bevor ich ging, servierte sie mir Marmelade aus grünen Nüssen – aus dem Glas, das sie für ihn aufgehoben hatte. Nach ungefähr zwei Monaten hörte ich, er habebei einem Unfall sein Leben verloren. Er sei auf einer eisernen Treppe gestürzt, als er aus dem Bad kam. Das war ’55. Vierzig Jahre später sah ich die Sendung Memorialul Durerii im Fernsehen und entdeckte seinen Namen auf einer Liste mit den Todesopfern der kommunistischen Gefängnisse. Ein Mitgefangener, dem es gelungen war, mit dem Leben davonzukommen, und der jetzt um die siebzig Jahre alt sein musste, sprach über ihn. Gigi Vătăşoiu war ein zu sensibler Mensch, um die Behandlung im Gefängnis überstehen zu können. Er wollte niemanden unter Folter verraten und brachte sich um, indem er sich von der Eisentreppe ins Leere stürzte. Er war zwanzig. Ist es nicht seltsam, dass ich das alles noch weiß? Ohne mir dessen bewusst zu sein, hat er mir wahrscheinlich sehr viel bedeutet. Der andere war wie gesagt Rolf Bossert. Er hatte beschlossen, das Land zu verlassen, nachdem er die Brutalität der Securitate immer wieder zu spüren bekommen hatte, ich glaube, ich habe dir schon erzählt, dass sie ihn verprügelt und ihn mit gebrochenem Kiefer unten vor dem Schriftstellerhaus hatten liegen lassen … Na ja, Rolf hat sich nicht lange an den Segnungen des Westens erfreuen können. Keine zwei Monate nach seiner Ankunft in Deutschland stürzte er sich eines Nachts aus dem Fenster seiner Wohnung.
Was war das?! Hörst du die Sirene heulen? Ist das die Polizei? Ist schon wieder ein Unfall in der Republica passiert? Sie geht zum Fenster. Es sind sogar mehrere, schau mal. Um Gottes Willen. Wer weiß, was irgendjemand jetzt gerade durchmachen muss. Das denke ich jedes Mal, ich stelle mir vor, ich bin das Opfer, und mir wird schlecht. Sie kommt zum Tisch zurück und nimmt einen Schluck Bier. Sie merkt, dass erzögert, ob er sie stützen soll oder nicht. Er lässt es sein. Lässt die Dinge, wie sie sind. Ich sprach von Rolf. Sie fanden ihn auf dem
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