Die Seelenjägerin - 1
wurde es früh dunkel, die hohen Gebäude aus altem Holz und bröckelndem Gips schirmten lange, bevor die Sonne tatsächlich unterging, das Licht ab. In der frühen Dämmerung regten sich die Räuber der Stadt, Ratten wie Menschen. Die Bettler, die im Sonnenschein die Straßen füllten, hatten sich in die schmalen Gänge zwischen den Häusern und in die Keller zurückgezogen, um ihre Münzen zu zählen. Nun nahmen Diebe und Huren ihren Platz ein, bezogen Posten in den größeren Straßen und vor den Schenken und warteten wie Wolfsrudel darauf, dass sich die Schwachen und Hilflosen zu erkennen gäben, um sie dann abzudrängen und zu verschlingen.
Ich gehöre nicht mehr zu euch , dachte sie, und ich bin auch nicht eure Beute, sondern etwas anderes, Neues, das außerhalb eurer Welt steht und euch zusieht, ohne von der Grausamkeit und von den Tränen der Menschen berührt zu werden.
Sie trug immer noch die Kleidung, die sie als Aethanus’ Schülerin gewählt hatte, eher die Tracht eines Knaben als die einer ehrbaren Bürgersfrau. Die hohen Stiefel und das enge Lederwams waren schwarz, kein Magisterschwarz, aber doch dunkel genug, um an düstere Geheimnisse denken zu lassen. Wenn sie das flammendrote Haar unter einer Mütze versteckte, konnte man sie auf den ersten Blick für einen Jungen halten. Wer jedoch genauer hinsah, mochte nachdenklich werden, und das war ihr gerade recht. Frauenkleider waren ihr ein Gräuel, und als ihre Mutter noch lebte, hatten sie oft darum gestritten, ob sie einen Rock tragen musste. Sie hasste den hinderlichen Stoff um die Beine, und vor allem hasste sie es, wenn der Saum im Schlamm und in der Jauche schleifte und ihr beim Gehen den Schmutz der Stadt gegen die Knöchel klatschte. Als Kind hatte sie einmal ein Messer genommen und den durchweichten Rand einfach abgeschnitten, sodass ihr Kleid wie ein zerlumpter Kittel aussah. Zwar hatte sie dafür von ihrer Mutter eine ordentliche Tracht Prügel bezogen, aber die Sache war ihr jeden einzelnen Schlag wert gewesen.
Jetzt … jetzt konnte sie anziehen, was immer sie wollte. Und wenn ein Mann daran Anstoß nahm und ihr das ins Gesicht sagte, würde er schon sehen, was er davon hatte.
Ihre Mutter war, kurz nachdem Kamalas Bruder von der Pest genesen war, mit den beiden Kindern nach Gansang gekommen, weil sie hier auf Verdienstmöglichkeiten hoffte, die ihr das Dorf ihrer Geburt nicht bieten konnte. Die Stadt hatte sie verschlungen und wieder ausgespuckt, sie aber vorher noch gezwungen, ihre beiden Kinder an jeden zu verkaufen, der sie haben wollte. Kamala hasste ihre Mutter nicht, weil sie ihnen das angetan hatte, aber sie konnte ihr auch nicht verzeihen. Anstelle menschlicher Gefühle empfand sie eher eine tiefe Leere. Sie überlegte, wie sie sich verhalten würde, falls sie ihr jetzt in irgendeiner Gasse begegnete. Würde sie sie begrüßen oder einfach verächtlich vorübergehen, als ob sie sie gar nicht kannte? Aber das waren nur Gedankenspielereien. Die Frau war längst an irgendeiner Gossenkrankheit zugrunde gegangen, und Kamala … Kamala hatte einen neuen Weg eingeschlagen, der sie hoffentlich an bessere Orte führen würde. Zumindest sollten sie weniger schmutzig sein.
Sie schlenderte nun wie eine Fremde durch die Stadt ihrer Jugend, wie ein Geist, der alles sah, aber nichts berührte. Die Einheimischen machten ihr Platz, niemand sprach sie an, obwohl sie hin und wieder glaubte, in einem gealterten Gesicht schemenhaft bekannte Züge zu entdecken. Sie selbst wurde nicht erkannt. Die Armut und das Gefühl, versagt zu haben, ließen die Menschen vorzeitig altern, sodass Kamala nicht mehr in die Generation passte, der sie eigentlich angehörte. Die Mädchen, die einst in der Winterkälte schlotternd mit ihr an einer Straßenecke gestanden und gerade so viel nacktes Fleisch gezeigt hatten, um das Interesse der Passanten zu erregen, hatten jetzt so viele Runzeln und Falten im Gesicht wie einst ihre Mutter. Niedergeschlagenheit und Verzweiflung hatten tiefe Spuren hinterlassen. Sie waren ihr fremd geworden.
Und immer noch bezahlen die Männer für diese Frauen , dachte Kamala böse, denn bei der Hurerei geht es letzten Endes nicht um Lust, sondern um Erniedrigung, sie ist weniger ein fleischliches Vergnügen als ein Triumph der Macht – man kann mit ein paar Münzen einen Menschen kaufen, der einem dann für wenige Minuten auf Gnade und Ungnade ausgeliefert ist. Die vornehmen Patrizier oben auf dem Stadtberg mochten Gefallen an raffiniert
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